ZENTWICKELUNGEN
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lernte Anschauungsfähigkeit mehr als Anschauungsergebnisse und er bemühte
sich wirklich so lange, die Natur durch ein Temperament, durch sein
eigenes zn sehen, bis es ihm gelang, obgleich es seiner Klugkeit nicht
verborgen bleiben konnte, daß es größere und reichere Temperamente
neben ihm gab. Er wollte lieber ein echter Bergkristall sein als ein
unechter Diamant.
Ein Beweis für die Konsequenz der Selbsterziehung Liebermanns
liegt in dem Umstand, daß er auf einem bestimmten Punkt innehielt.
Er ist mit Millet und Courbet zu Manet und weiter zu Degas gegangen;
aber vor dem Neo-Impressionismus hält er ein. Er hat, was er braucht;
und mehr wollte er nie. Denn keinem deutschen Künstler ist die Technik
so untrennbar von der Anschauung als ihm. Liebermann ist mit dem
Verlangen geboren worden und damit groß geworden, eine Anschauungs-
form des Lebens zu gewinnen und in zweiter Linie dann sie künstlerisch
darzustellen. Er hat sich nie darüber Sorgen gemacht, ob diese An-
schauungsform auch genial genug wäre. Mit dem Kunststück, über den
zigenen Schatten wegzuspringen, hat er sich nicht abgegeben; er nahm
vielmehr immer das ihm von der Natur Gegebene als etwas hin, woran
zu rütteln Wahnsinn wäre. Dieses Gegebene aber vollständig und ganz
klar auszusprechen, seine Anschauungsform als notwendig erscheinen zu
lassen: darin besteht seine Lebensarbeit. Er schuf sich eine Sprache, die
seinen Zwecken genug tun kann; aber brotlose Sprachkünsteleien, artistische
Spielereien zu treiben, .das liegt ihm ganz fern. Er ist sachlich und nichts
anderes. Mehr als einmal hat er, der Erdgefesselte, Ikarus aus stolzer,
luftiger Höhe herabstürzen sehen. Und wenn sich unsere Phantasie,
unsere Teilnahme vor allem gern dem Jüngling zuwendet, dessen tragisches
Genieschicksal dem Tiefsten in uns zum Symbol wird, so spricht eine
andere Stimme noch vernehmlicher von dem Ruhm des sich weise
Beschränkenden, der so viel und so Nützliches erreichen konnte und nach
anderer Richtung zu einem Vorbild reinen Künstlertums geworden ist.
Die soliden kraftvollen Tugenden haben Liebermann, den Inter-
nationalen, zu einem Maler gemacht, der unter den Deutschen als einer
der deutschesten steht. Auf die Vorstellungen, Empfindungen, Gemüts-
kräfte und Gefühlseigenheiten, die als spezifisch deutsch gelten, kann er
nicht mehr Anspruch erheben, als mancher andere nationale Maler; aber
er scheint nun reicher auch an diesen Eigenschaften zu sein als die meisten
seiner Kollegen, weil er seinen Besitz vollständig ausdrücken kann. Seine