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- MAX LIEBERMANN _-
Suche nach dem Verwandten und ihn wies ein rechter Instinkt nach
Frankreich.
Was die Modernsten wieder zu dem Romantiker Delacroix geführt
hat, was sie Ingres, den in allen alten Kunstgeschichten als eingefleischten
Klassizisten Abgestempelten, verehren läßt, ist nicht ein Stoff- oder Stil-
interesse. Die Fäden, die Delacroix mit dem Barock verbinden, die zwischen
Ingres und der Renaissancekunst geknüpft sind, diese sichtbare Tradition,
die beide‘ Meister zu ihrer Zeit populär machte, interessiert die Neueren
am wenigsten. ‚Aber über einigen der Bilder und Zeichnungen von Ingres
und über allen bedeutenden Werken von Delacroix liegt eine seltsame
Atmosphäre. Wenn auch die edlen, eleganten Linien des Ancien regime
die Werke beider Maler mehr oder weniger deutlich umschreiben, so spürt
man daneben doch eine entscheidende Revolutionierung in der Anschauungs-
kraft, die es treibt, wieder Urzustände herzustellen. . Im Jahrhundert der
Naturwissenschaften wittern die Künstler — bei diesen beiden beginnt es —
das Vegetative der Organismen; an Stelle der schönen Divinisierung alles
Lebendigen tritt in der Malerei die materialisierende Charakteristik. Der
Menschenleib wird nicht mehr ausschließlich als das architektonische Wunder-
werk betrachtet, sondern auch als ein grotesk verwunderliches Zuchtprodukt;
das Fleisch lockt nicht mehr in verführerischer Pracht, sondern es zuckt
gewaltsam darin das nach Erhaltung gierige animalische Leben. Die Bäume
und Felsen schließen sich nicht länger zu edlen repräsentativen Parksilhouetten,
zu heimlichen Glückswinkeln zusammen, sondern erscheinen wie seltsame
Gewächse im Schimmel dieser Erdrinde, den wir Vegetation nennen; das
Meer ladet nicht mehr mit verheißenden weiten Horizonten und fernen
sonnigen Küsten zur Lustfahrt ein, denn es wird wieder zu der Kraft,
die anfangs war und immer sein wird. Diese Anschauungsweise, die alles
Lebendige wie mit jäihem Erschrecken wahrnimmt, es wie etwas nie
Gesehenes anstarrt und dabei ein Wesentlichstes erkennt, kündigt sich
schon bei Ingres leise und Delacroix laut an. In der Folge, als diese
originale Anschauungskraft, die berufen war, die ganze Kunst des neun-
zehnten Jahrhunderts zu determinieren, zur Selbstbesinnung drängte, ver-
suchten Maler wie Daumier und Millet über die neue, fast zur Verzweiflung
treibende Sensation des Natureindrucks zu denken. Zwei grundverschiedene
Temperamente, im Innersten erschüttert von demselben Erlebnis, kamen
zu verwandten Ergebnissen. Für ihr Schaffen wurde schon zum Ausgangs-
punkt, was Delacroix als nicht abzuweisende Kraft des Sollens nur hatte