28 — 77 MAX LIEBERMANN -
er auch Meister sein. Die Natur ist nicht grausam, nur konsequent. Die
Kraft des Temperaments entwickelt sich dem Maler genau in dem Maße,
wie die Fähigkeit, mit den Mitteln der Malerei Eindrücke darzustellen,
zunimmt. Die größten Malergenies: Rubens, Tizian und Rembrandt, be-
deutende Pfadfinder wie Courbet und Manet und starke Talente wie Leibl
und Liebermann sind mit dem Alter nicht nur erkenntniskräftiger geworden,
sondern auch leidenschaftlicher und herzlicher. Ausnahmen von dieser Regel
3äind wieder nur die Romantiker, die einmal mehr damit beweisen, daß sie
weniger Malernaturen als Dichtertemperamente sind.
Daß Liebermann die typische Malerentwicklung durchgemacht hat,
spricht entscheidend für die Natürlichkeit seines Talents. Zu einer per-
sönlichen Tugend wird aber bei ihm diese Entwicklung, wenn man bedenkt,
daß sie im wesentlichen das Ergebnis der Selbsterziehung ist. Er hätte
im Anfang zweifellos auch anders gekonnt; ihm standen‘ die Wege offen,
die zu schnellerem Erfolge führen mußten. Daß er dann den Weg einer Not-
wendigkeit gewählt und sein Naturell gezwungen hat, sich einem Sollen
einzuordnen, ist vielleicht sein größter Ruhm. Um diese "Tat zu würdigen,
muß man bedenken, daß Liebermanns Talent nicht elementarisch wirkt.
Bei Künstlern wie Millet, Manet oder Rodin ist Talent und Weltanschauung
von vornherein Eines gewesen; sie mußten handeln, wie sie es taten, ihre
Entwickelung ist ein Altern und Reifen im Banne eines absolut beherrschenden
Richtungsinstinktes. Künstler ihrer Art werden von einer inneren Nötigung
blind auf vorbestimmten Schicksalswegen dahingeführt. Anders bei Lieber-
mann. Weltanschauung und Talent sind zuerst zweierlei bei ihm gewesen;
durch Entschluß und Disziplin erst hat er beide so zusammengebracht,
bis sie eine organische Einheit geworden sind, seine Erkenntnis hat den
Weg gefunden, den einzigen, der geeignet war, sein Talent bis zur Grenze
der Genialität zu führen. Wenn bei jenen Künstlern die angeborene Gabe
der Wahrnehmung schon alle modernen Gedanken, Empfindungen, Schluß-
folgerungen und Gefühlswerte in sich schloß, so hat Liebermann umgekehrt,
von der Erkenntnis aus, die Fähigkeit der lebendig modernen Wahrnehmung
erringen müssen. Dadurch erklärt es sich, daß man seinem Gesamtwerk
die gewaltige Anstrengung ansieht, und daß seine Kunst nicht eher ganz
lebendig wurde, bevor er Weltanschauung und Talent vollständig zu ver-
einigen gelernt hatte.
Als der Fünfundzwanzigjährige, um 1872, in Weimar sein erstes be-
deutendes Bild. „Die Gänserupferinnen‘“. malte, hatte ein gesunder