Path:
Entwickelungen

Full text: Max Liebermann / Scheffler, Karl (Public Domain)

ENTWICKELUNGEN 
am 
L 
Entwickelung als eine Kurve der Notwendigkeit, Ueber alle Hemmungen 
fort wird nun die welthistorische Tendenz erkannt, die ein großes Kunst- 
schicksal von Volk zu Volk weitergibt und ein Soll schafft, dem sich an- 
zuschließen, den modernen Künstlern jeder Nationalität zur Lebensfrage wird. 
In diesen befruchtenden Strom der Zeit hat sich nun Liebermanns 
Talent still hinabgleiten und zu seinen Zielen tragen lassen. Dieser be- 
wußte Künstler ist, an der Hand eines Zeitsollens, Schritt für Schritt 
vorwärts gegangen, hat nie ungeduldig das Letzte vorweg zu nehmen ge- 
strebt und immer. mit voller Hingabe das Nächste getan. 
Das ist, so allgemein gesprochen, freilich weniger ein Charakteristikum 
Liebermanns als vielmehr eines jeder echten Malerbegabung. Wer ein Talent 
hat, das nicht nur pathologisch äußerlich der Natur anhaftet, sondern fest 
mit dem ganzen Wesen verbunden ist, nimmt stets auch die natürlichen 
Interessen dieses Talentes wahr. Die Begabung für Malerei hat aber andere 
Interessen als etwa die für Poesie. In der Dichtkunst sehen wir in der 
Regel bei der Entfaltung der jungen Begabung ein jähes Aufflammen, ein Stürmen 
leidenschaftlicher Begeisterung und wilde Temperamentsausbrüche. Selbst der 
genialste Maler aber, so lehrt die Geschichte, beginnt mit handwerklicher 
Bedächtigkeit, ja, oft mit Übungen unpersönlicher, konventioneller Art. Wenn 
der Poet in der Jugend heiß ist und im Alter kühler wird, so wird der 
große Maler gerade mit dem zunehmenden Alter leidenschaftlicher und 
umfassender in seinem Wollen. Der Grund ist, daß der junge Dichter 
kaum etwas anderes ausdrücken kann als den Ilyrischen Überschwang, weil 
er, in dem Maße wie sich seiner Jugend eine klare und besonnene Ob- 
jektivität noch versagt, diesen Mangel durch eine Schilderung subjektiver 
Empfindungen, die ihm am nächsten liegen, ersetzen muß. Das zu tun 
hindert ihn nichts, weil er mit einem Kunstmittel arbeitet, das ihm in 
die Wiege gelegt wird, das er nicht zu erlernen, sondern nur zu ver- 
edeln braucht: mit der Sprache. Der Maler aber kann nur Empfindung 
ausdrücken — und das zu tun, ist seine Mission wie die des Dichters —, 
wenn er vorher die Fähigkeit erworben hat, die Objekte der sichtbaren 
Welt so darzustellen, daß sie im Bilde erscheinen, wie die Empfindung sie 
sieht. Eine schwer zu erwerbende Geschicklichkeit muß vorhergehen, bevor 
er überhaupt ausdrücken lernt, was ihm der Mitteilung wert erscheint, und 
je heftigere Leidenschaften des Herzens er darstellen will, desto mehr muß
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.