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Entwickelungen

Full text: Max Liebermann / Scheffler, Karl (Public Domain)

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- MAX LIEBERMANN - a 
Aufschwung, von einer Entfaltung der führenden Energien in der Folge 
kaum etwas zu spüren war. Eine Folge dieser Zustände ist es, daß 
während des ganzen Jahrhunderts eine lebendige bürgerliche Wirklichkeits- 
kunst die Herrschaft nicht erlangen konnte. Die Leitung, nicht nur die 
nominelle — das war auch in Frankreich so —, sondern die wirkliche, lag 
immer in den Händen einer theoretisierenden, abstrakten und protestierenden 
Romantik, der gewiß viel Gutes nachgerühmt werden kann, deren leiden- 
schaftliche Gedankengewalt aber allen Disziplinen nützlicher geworden ist, 
als der Kunst des Malens. Verborgen nur in den Tiefen des kleinbürger- 
lichen Milieus hat sich die wahrhaft moderne, auf innere und äußere 
Wirklichkeit gerichtete Kunstidee hingefristet. Zum eigentlich entscheidenden 
Revolutionsjahr ist den Deutschen erst die Affäre von 1870 geworden. Bis 
dahin war die Verbreitung und Organisation der neuen Lebensidee vom 
Partikularismus verhindert worden. Wenn in Frankreich die spontanen poli- 
tischen Bewegungen und die Kunstreformen durch die natürliche Zentralisierung 
aller nationalen Interessen in Paris ermöglicht wurden, so wirkte bei uns die in 
anderer Beziehung so fruchtbare Dezentralisation des nationalen Gedankens 
hemmend auf die Entwickelung der Kunst. Erst ein Krieg nach außen hat die 
Vorteile einer inneren Revolution gebracht. Aber eben dieser Krieg hat 
dann auch wieder verhindert, daß die Vorteile wahrgenommen werden 
konnten. In den sechziger Jahren schon hatte der Instinkt für die wahren 
Aufgaben der modernen Kunst unsere besten Maler nach Frankreich ge- 
führt, in die Lehre der Daumier, Courbet, Corot und der Schule von 
Fontainebleau. Das Ergebnis ist in der Lebensarbeit Leibls und seiner 
großen Schule enthalten. Die damals geknüpften Beziehungen, die zu 
einer stolzen Erneuerung und Verselbständigung unserer Malerei bereits 
geführt hatten, die aber noch viel fruchtbarer hätten werden können, sind 
eben in dem Augenblick, als die Einigung‘ den Austausch der geistigen 
Güter organisierte, von den großen Siegen jäh vernichtet worden. Was 
nach der einen Seite so unendliche Vorteile brachte, hat es auf der andern 
Seite verhindert, diese Vorteile zu nützen. Wieder folgte eine fünfund- 
zwanzig Jahre dauernde nationalistische Reaktion; die plötzlich. zusammen- 
geführten Volksgenossen sahen sich überschwemmt von längst fälligen Auf- 
gaben und stellten in der Verwirrung des Augenblicks die Ansprüche der 
Kunst zurück. Erst jetzt beginnt man wieder, die damals zerrissenen 
Fäden neu zu knüpfen; nun, wo der Deutsche der Objektivität und der 
weltbürgerlichen Denkweise fähig wird, zeigt sich ihm die große Linie der
	        
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