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Stoff und Form

Full text: Max Liebermann / Scheffler, Karl (Public Domain)

"STOFF UND FORM — 
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hat, läßt auch die malerische Phantasie sich nur einseitig entwickeln. Zur 
andern Hälfte freilich hängt es auch von der Veranlagung der Maler ab, 
in welcher Weise sie den sich heute bietenden schwierigen und profanen 
Lebensstoff formal bewältigen. Was Daumier, Millet oder Degas vor 
Liebermann voraus haben, ist die stärkere Einbildungskraft. Der Umstand, 
daß unserm deutschen Meister die Totalitätsidee mehr als Reflex entsteht, 
bringt es mit sich, daß er die Erscheinungen selten mit allen Möglich- 
keiten, in ihrer ganzen Tiefe erschöpft, und daß er einem großen Stoff 
wie „Simson und Dalila‘ mehr schuldig bleiben muß, als unsere Zeit es 
bedingt. Ihm gelingt immer die formale Einkleidung eines Gefühls; aber 
dieses hat dabei nicht immer die höchste symbolisierende Kraft. Das 
lebendige, versinnlichte Symbol — nicht die naturalistisch eingekleidete 
Allegorie — ist aber das eigentliche Produkt der Einbildungskraft. Wie 
Gott — nach Kant — nicht anders darzustellen ist, es sei denn in 
einer kindlich anthropomorphistischen Weise, als symbolisch, das heißt: 
mittels Analogien, so können auch Weltgefühle, diese heimlichen Motive 
jedes Kunstwerkes, nicht direkt, sondern nur analogisch, durch eine 
Art von Indizienbeweis ausgedrückt werden. Wo Liebermann es unter- 
nimmt, dieses zu tun, läßt ihn der Stoff, der so betrachtet freilich nur 
Vorwand ist, nie ganz los. Dieser Künstler verwandelt ihn in Form; aber 
nicht in eine höchst mögliche Form. Er überwindet das Einmalige, 
Zufällige und gibt das charakteristisch Typische, doch ist es immer auch 
ein Typisches im sozialen, also zeitlich begrenzten Sinne. Der Standpunkt 
ist oft zu nahe am Objekt, und es kommt darum nicht immer das höchste 
Gefühl der Befreiung auf, das nur in der Distanz gewonnen wird, 
Liebermann erhebt die Betrachter über den Stoff, so daß diese ihn voll- 
ständig übersehen; nicht immer aber so hoch, daß sie über ihn hinweg 
in die Ewigkeit schauen. Auch daß er mit Vorliebe den niederen Stoff 
wählt, so gerne das streng national determinierte Holländische sucht, nicht 
Weltstoffe, ist ein Beweis hierfür. Die „Netzflickerinnen“ bleiben, bei 
allem phrasenlosen Pathos, holländische Mädchen; Millet wuchsen seine 
französischen Hirtinnen zuweilen zu sibyllinischen, zeitlosen Wesen empor. 
Das alles beweist nicht das geringste gegen die Qualität der in sich 
geschlossenen Kunst Liebermanns, sondern zeigt nur, wie diese Malerei 
innerhalb der Weltkunst zu plazieren ist. Daß man bei der Beurteilung 
dieses Künstlers zu den höchsten Vergleichen und grundlegenden Theorien 
greifen muß, spricht am besten für seine Bedeutung. Für seine Bedeutung
	        
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