"STOFF UND FORM —
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hat, läßt auch die malerische Phantasie sich nur einseitig entwickeln. Zur
andern Hälfte freilich hängt es auch von der Veranlagung der Maler ab,
in welcher Weise sie den sich heute bietenden schwierigen und profanen
Lebensstoff formal bewältigen. Was Daumier, Millet oder Degas vor
Liebermann voraus haben, ist die stärkere Einbildungskraft. Der Umstand,
daß unserm deutschen Meister die Totalitätsidee mehr als Reflex entsteht,
bringt es mit sich, daß er die Erscheinungen selten mit allen Möglich-
keiten, in ihrer ganzen Tiefe erschöpft, und daß er einem großen Stoff
wie „Simson und Dalila‘ mehr schuldig bleiben muß, als unsere Zeit es
bedingt. Ihm gelingt immer die formale Einkleidung eines Gefühls; aber
dieses hat dabei nicht immer die höchste symbolisierende Kraft. Das
lebendige, versinnlichte Symbol — nicht die naturalistisch eingekleidete
Allegorie — ist aber das eigentliche Produkt der Einbildungskraft. Wie
Gott — nach Kant — nicht anders darzustellen ist, es sei denn in
einer kindlich anthropomorphistischen Weise, als symbolisch, das heißt:
mittels Analogien, so können auch Weltgefühle, diese heimlichen Motive
jedes Kunstwerkes, nicht direkt, sondern nur analogisch, durch eine
Art von Indizienbeweis ausgedrückt werden. Wo Liebermann es unter-
nimmt, dieses zu tun, läßt ihn der Stoff, der so betrachtet freilich nur
Vorwand ist, nie ganz los. Dieser Künstler verwandelt ihn in Form; aber
nicht in eine höchst mögliche Form. Er überwindet das Einmalige,
Zufällige und gibt das charakteristisch Typische, doch ist es immer auch
ein Typisches im sozialen, also zeitlich begrenzten Sinne. Der Standpunkt
ist oft zu nahe am Objekt, und es kommt darum nicht immer das höchste
Gefühl der Befreiung auf, das nur in der Distanz gewonnen wird,
Liebermann erhebt die Betrachter über den Stoff, so daß diese ihn voll-
ständig übersehen; nicht immer aber so hoch, daß sie über ihn hinweg
in die Ewigkeit schauen. Auch daß er mit Vorliebe den niederen Stoff
wählt, so gerne das streng national determinierte Holländische sucht, nicht
Weltstoffe, ist ein Beweis hierfür. Die „Netzflickerinnen“ bleiben, bei
allem phrasenlosen Pathos, holländische Mädchen; Millet wuchsen seine
französischen Hirtinnen zuweilen zu sibyllinischen, zeitlosen Wesen empor.
Das alles beweist nicht das geringste gegen die Qualität der in sich
geschlossenen Kunst Liebermanns, sondern zeigt nur, wie diese Malerei
innerhalb der Weltkunst zu plazieren ist. Daß man bei der Beurteilung
dieses Künstlers zu den höchsten Vergleichen und grundlegenden Theorien
greifen muß, spricht am besten für seine Bedeutung. Für seine Bedeutung