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Hedwig von Olfers
gestaltenden Kraft, daß sie alle diese Schätze der Erinnerung, der
Erfahrung und Belesenheit in lebenswarme Gegenwärtigkeit, in
Fleisch und Blut ihrer eigenen Persönlichkeit zu verwandeln
wußte. Diese Persoönlichkeit aber zu schildern, diese aus tausend
scheinbaren Widersprüchen zusammengesetzte, zur reizenden Har⸗
monie vereinigte Natur dem begreiflich zu machen, der sie nicht
selbst gekannt hat, — wie soll es demjenigen gelingen, dessen
dürftiger Bericht sich auf wenige Zeilen Raumes beschrän⸗
ken muß?
Tiefgründige Weltbeobachtung, die ihre Umgebung alle
Augenblicke durch Worte ursprünglicher Weisheit überraschte,
und daneben eine Weltfremdheit, die ihre Umgebung ebenso
oft zu Ausbrüchen heitersten Lachens veranlaßte; liebevolle Emp⸗
fänglichkeit für jede fremde Persönlichkeit und dabei völlige Un—
möglichkeit, aus der eigenen Persönlichkeit hinauszugehen;
Wohlwollen für Mensch und Tier, und dabei ein ganz be—
stimmtes Ablehnen alles dessen, was nicht zu ihr gehörte; durch
alle Verhältnisse der Welt und der Gesellschaft mit der ruhigen
Sicherheit hindurchgehend, welche angeborene Vornehmheit ver⸗
leiht, und dabei ohne eine Ahnung von Rang und Stand, von
Würden und Titeln. All dieses Widerstrebende vereint, all dies
Widersprechende erklärt durch den Zauber, den die Natur ihren
Lieblingen bei der Geburt in das Herz legt, den keine Zeiten
veralten, kein Schicksal verblassen läßt: durch Naivität.
Es war ein Geheimnis in dieser Frau: sie wurde an jedem
Tage neu geboren.
Das Schicksal hat in ihr Leben gegriffen, manchesmal und
mit rauhem Griff; Kümmernisse sind über diesen gebrechlichen
Nacken dahingegangen, lastend und schwer. Jedesmal aber,
wenn der neue Tag anbrach, lag die Welt wieder vor ihr, wie
ein offenes Buch voller Geheimnisse und Wunder; wie der
Schwan, der die Wassertropfen vom Gefieder schüttelt, so richtete
sich diese Seele aus Kummer, Not und Sorge auf, und wenn