Zeitgenossen über Zeitgenossen
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eine Frage ausgedacht, deren Beantwortung sie von Voß er—
bitten wollten. Aus der Schilderung des Besuches, die Wil—⸗
helm v. Boguslawski in seinem Tagebuche hinterlassen hat, geht
hervor, daß er ihnen Auskunft darüber geben sollte, wer und
was unter dem „Mädchen aus der Fremde“ in Schillers Ge—
dicht dieses Namens zu verstehen sei.
Also gerüstet traten beide am Mittwoch, 30. Juni 1824,
bei Johann Heinrich Voß an, und was nun weiter erfolgte,
soll Boguslawski mit eigenen Worten erzählen:
„Wir ließen uns bei dem alten Voß anmelden und wurden
angenommen. Er empfing uns an der Tür, nahm die Schlaf—-
mütze ab und setzte sie wieder auf. Dem Äußeren nach ein
alter, ehrwürdiger Mann, etwa wie der Pfarrer von Grünau
in der ‚Luise‘ in seinem kattunenen Schlafrock. Ich trug ihm
unsere Sache vor. Er nahm mein Exemplar von Schillers
Gedichten, las das in Rede stehende und die beiden letzten
Verse davon laut, entschied nun, das Mädchen sei die Dicht—
kunst, ohne sich aber weiter über den Sinn des Gedichtes aus—
zusprechen, meinte aber, die Schilderung wäre freilich etwas
unvollständig. Durch einige Fragen von uns dahin geleitet,
fing er an, von Schillers Leben zu erzählen. Er sagte, schon
in Schillers frühester Erziehung hätte es gelegen, und auch in
dem beschränkten Kreise, worin er gelebt, daß ihm die Menschen⸗
kenntnis fast ganz gemangelt habe. Alles habe er aus sich selbst,
aus seiner gewaltigen Phantasie schöpfen wollen, daher oft das
Überspannte, Hochtrabende, auf dem Kothurn Einherschreitende,
auch bei Schillers Person selbst.
Letzterer habe einst bei ihm zu Mittag gegessen, zuerst hätte
er gesprochen wie ein gewöhnlicher Mensch, wäre aber bei Tisch
lebhaft geworden, und nun wäre seine Sprache wie die eines
Redners, eines tragischen Heros gewesen, so sehr von der ge—
wöhnlichen Art und Betonung verschieden. Hätte er nur eine
Zeitlang in einer Stadt wie London oder Hamburg oder auch