Faust in Weimar
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wieder emporgestiegen in ihrer kindlichen Schalkhaftigkeit und
ihrem heiligen Ernste, mit ihren treuherzigen, sanftmütigen Augen
und der schwellenden Zornesader auf der hohen Stirn, die herr—
liche, ewige, heute ach in so nichtswürdige Banden geschlagene
Seele des deutschen Volkes. — O heilige Mutter, steh auf
von deinem Schlafe, schüttle sie aus dem Saume deines Ge—
wandes die Parasiten, die sich darin festgesetzt haben!
Und nun schweifen die Gedanken aus dem lieblichen Weimar
hinaus — andern Städten Deutschlands zu, und zum Beispiel
auch nach Berlin. Und da sieht man es liegen das königliche
Theater zu Berlin, welches vor allen anderen seine Pforten er—
schließen sollte der triebfröhlichen, an großen Problemen der Zeit
genährten deutschen Poesie — und man sieht, wie es sich gäh—
nend auf seinem Lager von Stroh rekelt — wie es dumpf und
stumpf zu der Weimarer Herrlichkeit hinüberschaut, ohne daß ihm
auch nur der Gedanke kommt, ob es denn nicht richtig wäre,
wenn die erste Stadt Deutschlands statt des alten Faust-Schlen—
drians, den man ihr zum Überdrusse vorführt, auch einmal diesen
echten, wirklichen Faust zu sehen bekäme. Aber statt dessen ver—
treibt es sich die Zeit mit Einaktern- und Konversationsstücken
und während aus dem Weimarer Theater eine Schar von
tiefergriffenen, hoch emporgehobenen Menschen strömt, verläßt
ein Publikum, das sich räsonnierend über die neuerlebte Trivi—
alität Luft macht, die königlichen Theaterräume zu Berlin! O
deutsche Nationalbuühne! — Und warum, in aller Welt, bringt
man ihn denn nicht in dieser Form? Wir wollen ja, meinet⸗
wegen, nicht verlangen, daß man den zweiten Teil zum stehenden
Repertoire-Stücke mache und regelmäßig auf den ersten folgen
lasse — es mag ja genügen, wenn man ihn alle Jahre eins⸗,
zweimal als etwas Besonderes bringt — aber bringen soll man
ihn; das ist eine künstlerische, eine nationale Pflicht! Und bringen
soll man den ersten Teil nicht in der abgedroschenen trivialen
Weise wie bisher — die man gar nicht mehr sehen kann, wenn