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Ein Wort an die Deutschen

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

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Ein Wort an die Deutschen 
sich ausbreitet? Erfahre ich nicht täglich mit Augen und Sinnen, 
wie sein materieller Reichtum wächst? 
Und doch nicht glücklich? Bin ich, den man früher seiner 
optimistischen Begeisterung wegen verhöhnte, zum Nörgler, 
Verkleinerer und schwarzseherischen Pessimisten geworden? 
Nein, nein, nein — und doch nicht glücklich! 
So wenig glücklich, wie jemand, der einen Palast bewohnt, 
glücklich sein kann, wenn er weiß, daß die Familie, die das 
Prachtgebäude umschließt, die Familie, zu der er gehört, die 
er liebt, in den glänzenden Gemächern da drinnen am Siechtum 
daniederliegt. 
Denn Siechtum lastet auf uns Deutschen! 
Sei es ausgesprochen, weil es ausgesprochen werden mußl 
Die Erscheinung, die in der deutschen Geschichte, dieser 
Leidensgeschichte, für mich die blutig-leidvollste ist, daß das 
wundervolle Unternehmen, das mit der Annagelung der Thesen 
an der Schloßkirche zu Wittenberg begann, ein Unternehmen 
geblieben ist, ein Anfangen, dem kein volles Gelingen, kein 
reifes, krönendes Werk folgte, diese Erscheinung wieder— 
holt sich: 
Geführt von einem bis in die letzte Ader von deutschem 
Lebenssaft durchtränkten Mann — Martin Luther hieß 
er — nahm Deutschland vor dreihundert Jahren einen Anlauf, als 
wollte es über die Wolken gehen und die ganze Menschheit in 
seinen Armen zum Himmel tragen. Und nachdem man eine 
Zeitlang selbstlos, mutig und gottbegeistert gewesen war, nach- 
dem man eine Zeitlang den deutschen Seelenalb, die Lethargie 
von sich geschüttelt hatte, kamen all die zerstörenden, erstickenden, 
bösen, bösen Mächte wieder: von oben die Selbstsucht, die aus 
der reinen Bewegung Kapital schlagen wollte und sogar den 
einst so herrlich jungen, jetzt alt gewordenen führenden Mann 
in ihre Schliche verstrickte, von unten das schwarmgeistigwütende 
Aufbegehren, das aus Entknechtung, Zügellosigkeit, aus Freiheit
	        
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