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Ein Wort an die Deutschen
sich ausbreitet? Erfahre ich nicht täglich mit Augen und Sinnen,
wie sein materieller Reichtum wächst?
Und doch nicht glücklich? Bin ich, den man früher seiner
optimistischen Begeisterung wegen verhöhnte, zum Nörgler,
Verkleinerer und schwarzseherischen Pessimisten geworden?
Nein, nein, nein — und doch nicht glücklich!
So wenig glücklich, wie jemand, der einen Palast bewohnt,
glücklich sein kann, wenn er weiß, daß die Familie, die das
Prachtgebäude umschließt, die Familie, zu der er gehört, die
er liebt, in den glänzenden Gemächern da drinnen am Siechtum
daniederliegt.
Denn Siechtum lastet auf uns Deutschen!
Sei es ausgesprochen, weil es ausgesprochen werden mußl
Die Erscheinung, die in der deutschen Geschichte, dieser
Leidensgeschichte, für mich die blutig-leidvollste ist, daß das
wundervolle Unternehmen, das mit der Annagelung der Thesen
an der Schloßkirche zu Wittenberg begann, ein Unternehmen
geblieben ist, ein Anfangen, dem kein volles Gelingen, kein
reifes, krönendes Werk folgte, diese Erscheinung wieder—
holt sich:
Geführt von einem bis in die letzte Ader von deutschem
Lebenssaft durchtränkten Mann — Martin Luther hieß
er — nahm Deutschland vor dreihundert Jahren einen Anlauf, als
wollte es über die Wolken gehen und die ganze Menschheit in
seinen Armen zum Himmel tragen. Und nachdem man eine
Zeitlang selbstlos, mutig und gottbegeistert gewesen war, nach-
dem man eine Zeitlang den deutschen Seelenalb, die Lethargie
von sich geschüttelt hatte, kamen all die zerstörenden, erstickenden,
bösen, bösen Mächte wieder: von oben die Selbstsucht, die aus
der reinen Bewegung Kapital schlagen wollte und sogar den
einst so herrlich jungen, jetzt alt gewordenen führenden Mann
in ihre Schliche verstrickte, von unten das schwarmgeistigwütende
Aufbegehren, das aus Entknechtung, Zügellosigkeit, aus Freiheit