376 Deutschland und Frankreich
die einstige Weltmacht Karls V. auf Ludwig XIV. übergegangen
war. And während Frankreich sich Schritt für Schritt zur
Einheit zusammenraffte und zum Staate erwuchs, brach das
Deutsche Reich wie eine große, überreife Frucht, die vom Baume
gefallen und aufgeplatzt ist, aus allem staatlichen Verbande,
wenn ein solcher überhaupt jemals vorhanden gewesen war, in
allen Nähten reißend, auf. Daß der günstige Stand der Dinge
links vom Rhein ganz wesentlich auf die traurige Lage des
Landes rechts vom Rheine zurückzuführen war, lag auf der
Hand; für die französischen Politiker, nicht nur für die un—
mittelbaren Nachfolger Richelieus, Mazarin und Ludwig XIV.,
sondern für alle, bis auf Napoleon J. und Napoleon III., wurde
es daher zum Arxiom, daß die Kraft und Größe Frankreichs
in unmittelbarem Zusammenhange mit der Schwäche Deutsch-
lands stände, daß Deutschland das Sprungbrett für Frankreichs
Weltmachtstellung, und daß es deshalb die von der Natur
gebotene Aufgabe jedes französischen Staatsmannes sei, Deutsch-
land in dem Zustande von innerer Zerrissenheit zu erhalten,
der es für jede eigene Lebensäußerung unfähig und für jegliche
Einwirkung von seiten Frankreichs zugänglich machte. Beinah
groteske Form nahmen die Verhältnisse unter Napoleon J. an,
der die letzten Konsequenzen dieser Politik zog, und für den
Deutschland, dessen Fürsten er wie Kartenkönige gegeneinander
ausspielte, eigentlich nur noch die große „Entschädigungsmasse“
war, an der er sich selbst schadlos hielt, wenn er Einbußen
erlitten hatte, oder mit der er Löcher zustopfte, die er irgendwo
in Europa gerissen hatte.
Ein solche, zweihundert Jahre lang konsequent festgehaltene
Anschauung und durchgeführte Methode konnte nicht verfehlen,
allmählich den breiten Massen der beiden einander gegenüber—
stehenden Nationen zum Bewußtsein zu kommen. Völker poli—
tisieren mit dem Gefühl, und so kam es, daß die Deutschen in
den Franzosen diejenigen zu sehen anfingen, die jede Wunde