Zum 10. März
329
Wem die Beobachtung einer Volksempfindung von Wert
und die in der Volksempfindung aufbewahrte geschichtliche Über—
lieferung heilig ist, der versäume nicht, an diesem Tage an die
Luisen⸗Insel heran und hinter ihr herum zu gehen. Er wird
langsam gehen müssen, denn ein nicht endender Strom von
Wanderern wird ihn aufnehmen, in dessen Mitte er sich lang⸗
sam, langsam fortbewegen muß. AUnd wenn er die Menge,
die ihn umgibt, mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet, wird er
Leute sehen, die man im Tiergarten, im Westen Berlins, für
gewöhnlich überhaupt nicht zu sehen bekommt. Das sind die
kleinen Leute aus dem Mittelpunkte, dem Osten, Nord—⸗
Osten und Süd-Osten von Berlin, die nur einmal in der
Woche, am Sonntag, Zeit haben, auszugehen, und denen an
dem einen Tag der Weg nach dem Westen zu weit ist. Heut
aber, am 10. März, ist ihnen der Weg nicht zu weit gewesen,
heut sind sie gekommen und kommen noch immer in neuen
Scharen an, denn heute, das wissen sie alle, ist ja der Geburts⸗
tag ihrer Königin Luise. Und so ziehen sie Schritt für Schritt
dahin, blicken mit großen, staunenden Augen auf die herrlichen
Blumen zur Rechten und zur Linken und sprechen wenig, und
das, was sie sprechen, mit leiser Stimme. Denn preußische
Menschen sind deutsche Menschen, der deutsche Mensch wird
stumm, wenn er tief empfindet, und diese Menschen alle emp—
finden tief. Wie in einer Prozession bewegt sich die ganze,
langsam vorwärts schiebende Menge, wie in einer gottesdienst⸗
lichen Handlung. And eine solche Handlung ist dieses wirklich,
eine gottesdienstliche im Sinne unserer Altvorderen, die nicht
in Tempel und steinerne Häuser, sondern in den heiligen Hain
gingen, sich unter freiem Himmel einig zu fühlen mit dem Be—
—
weihte Stätte, das ist den kleinen Leuten von Berlin dieses
aus winterlicher Dürre in lachenden Frühling verwandelte
Stückchen Erde. Ich weiß nicht, auf wen der schöne Brauch