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Zum 10. März

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

Zum 10. März 
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man fand einen Polypen im Herzen, die rechte Lunge fast 
zerstört. Die Ärzte sagen, der Polyp am Herzen sei eine Folge 
zu großen und anhaltenden Kummers — dessen hat sie viel, 
viel gehabt!“ 
Wer das heute liest, dieses „dessen hat sie viel, viel ge— 
habt“, dem ist, als vernähme er, wie einen Nachhall des düsteren 
Wortes, ein aus tiefster Brust aufseufzendes „ja“. Aus der 
Brust eines Volkes kommt dieser Seufzer, des preußischen 
Volkes, aus dem Munde des preußischen Volkes ertönt dieses 
dumpfe, bestätigende „ja“. Ja, das preußische Volk wußte und 
weiß, daß diese Frau, diese seine Königin Luise, großen und 
anhaltenden Kummer gehabt hat, und daß das Leid, das sie 
erlitt, nicht nur für Gatten und Kinder, sondern für alle An— 
gehörige ihres Volkes, des zertretenen preußischen Volkes er— 
tragen worden ist. Darum geschah etwas Wunderbares: es 
wiederholte sich im neunzehnten Jahrhundert ein Vorgang, wie 
solche in der Urzeit stattgefunden haben, als noch nicht der 
einzelne, sondern die Gesamtheit dichtete und die Werke schuf, 
die man Mythologien und Legenden nennt, das gesamte preu— 
ßische Volk dichtete sich im neunzehnten Jahrhundert eine Le— 
gendengestalt. Das war die Konigin, der das Herz um ihres 
Volkes willen brach, seine Königin Luise. 
Denn die Legendengestalt ist nicht eine willkürlich erfundene, 
sondern eine aus der Wirklichkeit geborene Gestalt, an der Haß 
oder Liebe gearbeitet, gestaltet, phantasierend hinzugesetzt haben, 
bis daß eine neue, der ursprünglich wirklichen Gestalt nur noch 
in den hauptsächlichen Zügen ähnliche, in allem übrigen aber, 
sei es nach der Seite des Schrecklichen oder des Lieblichen, 
über diese hinausgehende Figur entstanden ist. Darum ist alle 
Volksdichtung Legendendichtung, denn das Volk dichtet nicht 
aus ästhetischen, sondern aus Herzensbedürfnissen, immer nur 
aus Liebe, oder aus Haß. In diesem Falle nun hat es aus 
Liebe gedichtet, und so ist Königin Luise in unserer Vorstellung
	        
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