Ein Wort über Weimar
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würde er sich im Irrtum befinden, denn der Goethe⸗-Tag ist
nicht etwa eine leere akademische Gepflogenheit, die Tätigkeit
der Goethe-Gesellschaft bedeutet für unsere heutige deutsche Lite-⸗
ratur etwas ganz Bestimmtes, Wertvolles, ja Notwendiges:
in unserer heutigen Literatur, in welcher Richtungen und Strö—
mungen nicht nur von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, sondern mit
unheimlicher Hast beinah schon von Jahr zu Jahr wechseln,
bedeutet sie den großen, ruhenden Punkt, das Schwergewicht,
ohne welches unsere Literatur zu fahriger Spreu zerstieben würde.
Es ist eine Lebensbedingung für die Literatur eines jeden Kul—
turvolks, daß sie über einen gesicherten Besitzstand verfügt, der
einen Wert an sich und zugleich einen Wertmesser für die üb—
rige Produktion darstellt, über einen Besitz, der unverlierbar
ist, weil er im Bewußtsein der Nation begründet ruht, der
keiner Verminderung und Verkleinerung unterworfen ist, weil
er nicht mehr der Kritik, sondern nur noch der Betrachtung
angehört. Das ist die klassische Literatur eines Volks. Wie
jede Kulturnation besitzen auch wir Deutschen eine solche; aber
während die romanischen Nationen, denen ja ein viel größerer
Respekt vor ihrer Sprache innewohnt, als uns, sich in ehr—
fürchtiger Scheu vor ihrer klassischen Literatur beugen, ihre
Aufrechterhaltung als eine nationale Pflicht, jedes Betasten
derselben als einen nationalen Frevel empfinden, steht es bei
uns in Deutschland leider keineswegs so. Der dem deutschen
Geiste anhaftende Zug zum Raditkalismus bringt es mit sich, daß
die Werke unserer Klassiker auch heute noch in den Meinungs-
streit der Gegenwart hineingezerrt werden, und die Folge davon
ist, daß unser Volk nicht zum Bewußtsein seines Reichtums und
damit nicht zu dem gesunden Stolze gelangt, den jedes auf sich
selbst gestellte Volk zur Erfüllung seiner Kulturaufgaben braucht.
Einem Volke, das an solchen Mängeln krankt, muß ge—
holfen werden; und der deutschen Nation diese Hilfe zu bringen,
das eben ist das Werk, zu dem sich die Goethe-Gesellschaft