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Ein Wort über Weimar

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

Ein Wort über Weimar 
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würde er sich im Irrtum befinden, denn der Goethe⸗-Tag ist 
nicht etwa eine leere akademische Gepflogenheit, die Tätigkeit 
der Goethe-Gesellschaft bedeutet für unsere heutige deutsche Lite-⸗ 
ratur etwas ganz Bestimmtes, Wertvolles, ja Notwendiges: 
in unserer heutigen Literatur, in welcher Richtungen und Strö— 
mungen nicht nur von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, sondern mit 
unheimlicher Hast beinah schon von Jahr zu Jahr wechseln, 
bedeutet sie den großen, ruhenden Punkt, das Schwergewicht, 
ohne welches unsere Literatur zu fahriger Spreu zerstieben würde. 
Es ist eine Lebensbedingung für die Literatur eines jeden Kul— 
turvolks, daß sie über einen gesicherten Besitzstand verfügt, der 
einen Wert an sich und zugleich einen Wertmesser für die üb— 
rige Produktion darstellt, über einen Besitz, der unverlierbar 
ist, weil er im Bewußtsein der Nation begründet ruht, der 
keiner Verminderung und Verkleinerung unterworfen ist, weil 
er nicht mehr der Kritik, sondern nur noch der Betrachtung 
angehört. Das ist die klassische Literatur eines Volks. Wie 
jede Kulturnation besitzen auch wir Deutschen eine solche; aber 
während die romanischen Nationen, denen ja ein viel größerer 
Respekt vor ihrer Sprache innewohnt, als uns, sich in ehr— 
fürchtiger Scheu vor ihrer klassischen Literatur beugen, ihre 
Aufrechterhaltung als eine nationale Pflicht, jedes Betasten 
derselben als einen nationalen Frevel empfinden, steht es bei 
uns in Deutschland leider keineswegs so. Der dem deutschen 
Geiste anhaftende Zug zum Raditkalismus bringt es mit sich, daß 
die Werke unserer Klassiker auch heute noch in den Meinungs- 
streit der Gegenwart hineingezerrt werden, und die Folge davon 
ist, daß unser Volk nicht zum Bewußtsein seines Reichtums und 
damit nicht zu dem gesunden Stolze gelangt, den jedes auf sich 
selbst gestellte Volk zur Erfüllung seiner Kulturaufgaben braucht. 
Einem Volke, das an solchen Mängeln krankt, muß ge— 
holfen werden; und der deutschen Nation diese Hilfe zu bringen, 
das eben ist das Werk, zu dem sich die Goethe-Gesellschaft
	        
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