Ein Wort über Weimar
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möglich, daß man das kann; allmählich kommt man dahinter,
daß es geht, daß es ganz gut geht. Schließlich merkt man,
daß es vortrefflich geht. Wenn am ersten Morgen nach meiner
Ankunft der Kellner bei mir anfragt, ob ich eine Zeitung
wünsche, erwidere ich einfach „nein“; wenn er am zweiten
Morgen die Frage wiederholt, werde ich grob. Und wenn
man dabei ein Abnehmen seines Intellekts bemerkte. Aber
wirklich — nein. Ich will mich nicht besser machen, als ich
bin, aber ich habe noch nie bemerkt, daß ich dümmer aus Wei—
mar nach Berlin zurückgekommen bin, als da ich hinfuhr. Eher
im Gegenteil. Während der Rückreise wenigstens komme ich
mir beinah noch ein wenig gescheiter vor, als während meiner
Berliner Existenz, wenigstens bis Jüterbog; von da pflegt dann
der gewöhnliche Geisteszustand wieder einzutreten.
Wie erklärt man nun das Wunder, das von diesem selt—
samen Orte ausgeht. Ja — das ist eben wieder einmal ein
Geheimnis von Weimar. Ich für mein Teil glaube, daß es
am Boden liegt. Nicht an dem Boden als Erdreich, insofern
man ihn mit geognostischem Blick betrachtet, sondern an dem
Boden, über den einstmals so große, herrliche Menschen dahin⸗
gewandelt sind, mit so weiten, Zeit und Ewigkeit umspannenden
Gedanken im Kopfe, mit so tiefen, die ganze Menschheit um—
fangenden Gefühlen in der Seele. Das hat sich dem Boden,
der Luft, der ganzen Atmosphäre dieser Stadt wie eine zu
lebendigem Bestandteil gewordene Erinnerung eingeprägt, das
atmet aus ihr aus, wie eine den gegenwärtigen Menschen mit
suggestiver Macht umspinnende und berauschende unsichtbare
Gewalt. Über dem Verlernen fängt man an zu lernen, über
dem Vergessen der Tagesfragen fängt man an, sich zu erinnern,
daß es größere Fragen als die Tagesfragen gibt, Fragen, die
mit den Grundbedingungen der Menschheit, insbesondere der
deutschen, ihren Eigenschaften und ihren daraus sich ergebenden
Schicksalen zusammenhängen, große, bleibende, ewige Fragen.
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