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Ein Wort über Weimar

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

Ein Wort über Weimar 
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möglich, daß man das kann; allmählich kommt man dahinter, 
daß es geht, daß es ganz gut geht. Schließlich merkt man, 
daß es vortrefflich geht. Wenn am ersten Morgen nach meiner 
Ankunft der Kellner bei mir anfragt, ob ich eine Zeitung 
wünsche, erwidere ich einfach „nein“; wenn er am zweiten 
Morgen die Frage wiederholt, werde ich grob. Und wenn 
man dabei ein Abnehmen seines Intellekts bemerkte. Aber 
wirklich — nein. Ich will mich nicht besser machen, als ich 
bin, aber ich habe noch nie bemerkt, daß ich dümmer aus Wei— 
mar nach Berlin zurückgekommen bin, als da ich hinfuhr. Eher 
im Gegenteil. Während der Rückreise wenigstens komme ich 
mir beinah noch ein wenig gescheiter vor, als während meiner 
Berliner Existenz, wenigstens bis Jüterbog; von da pflegt dann 
der gewöhnliche Geisteszustand wieder einzutreten. 
Wie erklärt man nun das Wunder, das von diesem selt— 
samen Orte ausgeht. Ja — das ist eben wieder einmal ein 
Geheimnis von Weimar. Ich für mein Teil glaube, daß es 
am Boden liegt. Nicht an dem Boden als Erdreich, insofern 
man ihn mit geognostischem Blick betrachtet, sondern an dem 
Boden, über den einstmals so große, herrliche Menschen dahin⸗ 
gewandelt sind, mit so weiten, Zeit und Ewigkeit umspannenden 
Gedanken im Kopfe, mit so tiefen, die ganze Menschheit um— 
fangenden Gefühlen in der Seele. Das hat sich dem Boden, 
der Luft, der ganzen Atmosphäre dieser Stadt wie eine zu 
lebendigem Bestandteil gewordene Erinnerung eingeprägt, das 
atmet aus ihr aus, wie eine den gegenwärtigen Menschen mit 
suggestiver Macht umspinnende und berauschende unsichtbare 
Gewalt. Über dem Verlernen fängt man an zu lernen, über 
dem Vergessen der Tagesfragen fängt man an, sich zu erinnern, 
daß es größere Fragen als die Tagesfragen gibt, Fragen, die 
mit den Grundbedingungen der Menschheit, insbesondere der 
deutschen, ihren Eigenschaften und ihren daraus sich ergebenden 
Schicksalen zusammenhängen, große, bleibende, ewige Fragen. 
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