Path:
Ein Wort über Weimar

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

304 
Ein Wort über Weimar 
Thüringer Mädchengesicht, so sahst du aus in deinem duftenden 
Kleid, wie ein blondes Köpfchen, dem man die Locken ge— 
pudert hat, um seiner Lieblichkeit einen besonderen Reiz zu 
verleihen! 
Aber nicht das äußere Gewand nur, ein tieferer, ein inner— 
licher Beweggrund ist es, der mich immer wieder nach Weimar 
zieht, die Erfahrung, daß man daselbst etwas lernen kann. In— 
dem ich dies niederschreibe, sehe ich, vorschauenden Blicks, 
mehrfache Berliner Gesichter sich zu spöttischem Lächeln ver— 
ziehen, „wir — etwas von Weimar lernen?“ Ja, teuere Mit— 
bürger, gerade ihr, gerade wir zeitungsfressenden, Nachrichten 
verschlingenden Großstädter können etwas sehr Wertvolles von 
dem stillen Weimar lernen, etwas, das damit anfängt, daß 
man eine schlechte Gewohnheit, das Zeitung-Lesen verlernt. Zu 
den perversen Leidenschaften, an denen unser heutiges geistiges 
Leben krankt, rechne ich in erster Linie das massenhafte, wüste, 
ode Insichhineinstopfen von Zeitungslektüre, diese Scheintätigkeit, 
die keine wahre Tätigkeit ist, diese geistige Geschäftigkeit, die 
keine geistige Beschäftigung ist, diese schlimmste Methode der 
Versimpelung, weil jeder, der durch seinen Zeitungsreporter er— 
fahren hat, was sich da draußen in der Welt begibt, sich nun 
für „den Mann seiner Zeit“ hält. Wer von uns denkt denn 
noch mit eigenen Gedanken? Unser „Organ“ denkt in uns; 
wer spricht noch mit eigenen Worten? Unser „Organ“ leit⸗ 
artikelt von unseren Lippen; wer von uns ist überhaupt noch 
ein Ding für sich, eine Persönlichkeit, ein Individuum? Futte—⸗ 
rale, mit Preßfüllsel gestopft, das sind wir, und weiter nichts. 
Und da gibt es nun einen Ort, wo dieses zehrende Fieber, 
diese krankhafte Sucht nach Neuigkeiten und Begebenheiten und 
Sensationen plötzlich von uns abläßt, von uns absinkt, wie eine 
Last, wie ein Alb, wie etwas, das man für ein Nahrungs- 
mittel gehalten hat, während es nur ein Narkotikum war. Man 
hört auf, Zeitungen zu lesen; man hält es anfangs kaum für
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.