Path:
Am Matthäikirchplatz. Eine Phantasie zum 6. Januar 1900

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

192 
Am Matthäikirchplatz 
loch. Durch den dunklen Eingangsflur schwebte er dahin, durch 
die ganze, etwas altmodische Wohnung, bis daß er endlich durch 
ein letztes Schlüsselloch hindurch in das Zimmer „nach hinten, 
nach den Gärten hinaus“ gelangte. Unsichtbar blieb er mitten 
im Zimmer stehen. Ein viereckiger, stiller, schöner, behaglicher 
Raum umgab ihn. Bücher ringsum, an den Wänden Stiche 
und Photographien, und die Nymphe von Böcklin, die schla— 
fende, von zwei Faunen bewacht. 
Der Genius von Berlin sah sich um. Er war ja in 
früheren Zeiten manchmal schon in diesem Zimmer gewesen, 
unsichtbar wie heute. Welcher Geist hatte damals aus wechsel⸗ 
— 
hier plaudernd gestanden, zuhörend gesessen! Julian Schmidt, 
an dem der Kopf immer zu groß für das Untergestell des 
—X 
aussah, rauhborstig nach außen, wohlwollend da, wo niemand 
hineinsah, im Kern seines Wesens. Wilhelm Scherer, mit den 
großen, runden, in Unternehmungslust strahlenden Augen, immer 
einem jener Götterlieblinge gleich, die die Götter der Mensch— 
heit und der Erde nicht lange gönnen. Neben ihnen andere, 
viele, bedeutende. Und von ihnen allen nur einer noch übrig, 
der da am Schreibtisch nachdenkende, einsame Mann, der Herr 
dieses Zimmers, Herman Grimm. 
Und wie er so dasaß, zurückdenkend über die zweiundsiebzig 
Jahre, die ihm heute, wie eine Schar ehemaliger Gefährten, 
den letzten Blick zuwandten, war es ihm, als beugte sich etwas 
zu seinem Ohre, etwas Ansichtbares, und als flüsterte es ihm zu: 
„Du bist einsam, Herman Grimm, wie alle es sind, die nicht 
auf der Heerstraße einhergehen, im großen Haufen, sondern quer⸗ 
feldein ihren eigenen Weg verfolgen. Aber die Wege, auf 
denen dein Instinkt dich führt, gehen nicht in die tote Wüste 
hinaus, sondern dahin, wo die Brunnen sind, in denen das 
ewig belebende Wasser verwahrt wird. Ein Brunnenfinder bist
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.