Das deutsche Drama
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gang von vornherein durch diejenigen vorherbestimmt ist, von
denen sie die Krankheitstriebe geerbt haben.
Diese Theorie, die, wie jetzt von allen medizinischen Autori—
täten anerkannt ist, auf einer oberflächlichen Ausnützung halb
oder ganz falsch verstandener wissenschaftlicher Forschungsergeb—
nisse beruht, fand, wie in dem gesamten neurasthenisch gewor—
denen Europa, auch in Deutschland fanatisches Entgegenkommen.
Diese Theorie, die nichts weiter ist, als die Dramatisierung der
seelentötenden materialistischen Weltanschauung, die das Drama
mit einem Schlag aus dem Gebiete des geistigen Lebens in das
des leiblichen verpflanzt, die an Stelle von Seelenkämpfen und
Seelenentwicklung physisches Leiden und einen physiologischen
Krankheitsprozeß stellt, kam diesem seelenschwach gewordenen
Geschlechte gerade recht. All die großen geistigen Werkzeuge,
mit denen die Menschheit an sich gearbeitet hatte, Wille, Über—
zeugung, Glauben, wurden in die Rumpelkammer geworfen;
die Seele des Menschen wurde abgesetzt und statt ihrer das
Nervensystem als Beherrscher der Welt und der Menschheit
proklamiert. Ein verwüstender Strom oberflächlicher Welt—
anschauungen brach in die Gemüter ein; die Mittelmäßigkeit,
der die Größe und Erhabenheit stets verhaßt ist, griff mit beiden
Händen nach der neuen Lehre, und in Deutschland entstand
eine Masse der fürchterlichsten Dramen nach Ibsens Muster.
Nach seinem Muster, aber ohne seine Kraft. Denn die
technische Kraft Ibsens ist außerordentlich. Er ist ein sehr ge—
schickter, beinahe raffinierter Bühnenkünstler. Das dokumentiert
sich sogar darin, daß er es verstanden hat, seine oben gekenn—
zeichneten Epilogdramen so auszuarbeiten, daß sie vielfach den
Eindruck ganzer, vollständiger Dramen erwecken; das dokumen⸗
tiert sich in der Fähigkeit, Gestalten zu schaffen, und in der
Kunst, mit der er den Dialog in seinen Stücken handhabt. Be—
schäftigt man sich aber eingehend mit diesen Werken, so findet
man, daß sie nach der ersten lebhaften Lebendigkeit, mit der sie