Path:
Das deutsche Drama. Seine Entwicklung und sein gegenwärtiger Stand

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

Das deutsche Drama 
157 
man sich das gefallen, denn ein altes Sprichwort sagt: daß 
kein Töpfer die Scheibe des anderen lobt. Schlimmer und be— 
zeichnender ist die Art, wie in Deutschland die Kritik seinen 
Anfängen begegnete, und in einem Aufsatze, der die dramatische 
Produktion eines Landes behandelt, darf dieser andere wichtige 
Faktor, die dramatische Rezeption, die man Kritik nennt, nicht 
stillschweigend übergangen werden. 
Da ist denn zu sagen, daß es damit in Deutschland 
schlecht bestellt ist, und es erklärt sich dies, wenn man sich des 
oben Gesagten erinnert, daß die tiefsten Instinkte der deutschen 
Seele eigentlich undramatisch sind. Wer die Gesetze der dra— 
matischen Kunst nicht instinktiv in sich selbst fühlt, kann sie auch 
nicht erkennen, wenn sie ihm aus einer anderen Persönlichkeit 
und deren Werken entgegentreten. So wie die Kritiker der roman⸗ 
tischen Schule Schillers dramatische Gewalt nicht empfanden, 
so erging es den Kritikern zur Zeit Richard Wagners, und 
so macht es die Kritik in Deutschland noch heute. So viele 
Zeitungen, so viele dramatische Kritiker gibt es in Deutschland 
und jeder von diesen — wobei der Masse, die den Wortführern 
nachspricht, noch nicht einmal gedacht ist — hat seine ganz be— 
sondere Theorie von der dramatischen Kunst für sich. Nicht an 
dem großen, allgemein gültigen Gesetz der Dramatik, sondern 
an seiner höchst persönlichen Theorie mißt und beurteilt jeder 
dieser Kritiker das Werk, das ihm entgegentritt. Der schwere 
Schade, der sich daraus für die dramatische Kunst nach beiden 
Seiten, der produktiven und rezeptiven, ergibt, liegt auf der 
Hand. Die Arteilsfähigkeit des Publikums, an sich schon unsicher 
genug, wird durch dieses, häufig in krassem Widerspruch zu⸗ 
einander stehende Stimmengewirr völlig unsicher gemacht; die 
naive Empfänglichkeit wird ihm vernichtet. Für den schaffenden 
Dichter aber geht die Empfindung, daß die Kritik eine korri— 
gierende, zugleich aber helfende Macht, eine höhere Instanz sei, 
bei der er sich Belehrung und Förderung holen könnte, gänzlich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.