Das deutsche Drama
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bringen sich kaum zügeln läßt. Aber die Qualität dieser Her—
vorbringungen stand in keinem Verhältnisse zur Quantität und
man muß die großen Begabungen, die damals tätig waren,
aufrichtig beklagen, daß sie dazu verurteilt waren, in solcher
Zeit zu schaffen. Bezeichnend dafür, wie gänzlich der Sinn
für dramatische Größe dieser Generation verloren gegangen war,
ist die Art, wie kläglich die häufig unternommenen Versuche
ausfielen, die großen Sagendichtungen Deutschlands, insbeson—
dere die Nibelungensage, zu dramatisieren, und doppelt bezeich—
nend die Art, wie die zünftigen Dramatiker dieser Zeit achsel—
zuckend an dem Manne vorübergingen, der neben ihnen schaffte
und schuf, der ebenfalls nach den deutschen Sagenstoffen griff
und der, während sie ihn geringschätzig ignorierten, der einzige
war, der diese Stoffe in ihrer Größe erkannte und sie dramatisch
zu gestalten vermochte.
Dieser Mann war der Musikdramatiker Richard Wagner,
der nicht nur turmhoch über den Dramatikern des „jungen
Deutschland“ steht, sondern der überhaupt und bis in unsere
Tage der genialste deutsche Dramatiker seit Friedrich Schiller
ist. Ohne auf die übrigen Musikdramen Richard Wagners
einzugehen, sei hier nur, um das Gesagte zu erläutern, auf die
Art hingewiesen, wie er, im Gegensatze zu den Dramatikern
seiner Zeit, den Stoff der Nibelungensage erfaßt hat. Alle
diese Dramatiker wählten nämlich als Grundlage für ihre Drama—
tisierung des großen Stoffes das deutsche Nibelungenlied.
Keinem einzigen fiel es ein, über dasselbe hinauszugehen, keinem
einzigen kam der Gedanke, daß das Nibelungenlied selbst schon
eine Bearbeitung, eine abgeschwächte Bearbeitung der ursprüng-
lichen Sage war. Alle diese Dramen waren also Bearbeitungen
einer Bearbeitung; man kann sich vorstellen, was daraus wurde!
Alle diese Dramatiker übersahen gänzlich, was schon der Ver—
fasser des Nibelungenliedes übersehen hatte, wo eigentlich der
dramatisch-tragische Konflikt des Stoffes ruht, nämlich in dem