Path:
Das deutsche Drama. Seine Entwicklung und sein gegenwärtiger Stand

Full text: Blätter vom Lebensbaum / Wildenbruch, Ernst von (Public Domain)

Das deutsche Drama 
155 
bringen sich kaum zügeln läßt. Aber die Qualität dieser Her— 
vorbringungen stand in keinem Verhältnisse zur Quantität und 
man muß die großen Begabungen, die damals tätig waren, 
aufrichtig beklagen, daß sie dazu verurteilt waren, in solcher 
Zeit zu schaffen. Bezeichnend dafür, wie gänzlich der Sinn 
für dramatische Größe dieser Generation verloren gegangen war, 
ist die Art, wie kläglich die häufig unternommenen Versuche 
ausfielen, die großen Sagendichtungen Deutschlands, insbeson— 
dere die Nibelungensage, zu dramatisieren, und doppelt bezeich— 
nend die Art, wie die zünftigen Dramatiker dieser Zeit achsel— 
zuckend an dem Manne vorübergingen, der neben ihnen schaffte 
und schuf, der ebenfalls nach den deutschen Sagenstoffen griff 
und der, während sie ihn geringschätzig ignorierten, der einzige 
war, der diese Stoffe in ihrer Größe erkannte und sie dramatisch 
zu gestalten vermochte. 
Dieser Mann war der Musikdramatiker Richard Wagner, 
der nicht nur turmhoch über den Dramatikern des „jungen 
Deutschland“ steht, sondern der überhaupt und bis in unsere 
Tage der genialste deutsche Dramatiker seit Friedrich Schiller 
ist. Ohne auf die übrigen Musikdramen Richard Wagners 
einzugehen, sei hier nur, um das Gesagte zu erläutern, auf die 
Art hingewiesen, wie er, im Gegensatze zu den Dramatikern 
seiner Zeit, den Stoff der Nibelungensage erfaßt hat. Alle 
diese Dramatiker wählten nämlich als Grundlage für ihre Drama— 
tisierung des großen Stoffes das deutsche Nibelungenlied. 
Keinem einzigen fiel es ein, über dasselbe hinauszugehen, keinem 
einzigen kam der Gedanke, daß das Nibelungenlied selbst schon 
eine Bearbeitung, eine abgeschwächte Bearbeitung der ursprüng- 
lichen Sage war. Alle diese Dramen waren also Bearbeitungen 
einer Bearbeitung; man kann sich vorstellen, was daraus wurde! 
Alle diese Dramatiker übersahen gänzlich, was schon der Ver— 
fasser des Nibelungenliedes übersehen hatte, wo eigentlich der 
dramatisch-tragische Konflikt des Stoffes ruht, nämlich in dem
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.