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Das deutsche Drama
Das ist kein leichtes Stück Arbeit, denn in der Geschichte
und der Seelenart des deutschen Volkes sind Elemente, die es
beinahe unmöglich erscheinen lassen, daß ihm das große, echte
Drama gelingen sollte.
Es ist eine hergebrachte Sache, daß man das Drama mit
dem Werke des Bildhauers vergleicht, und wie so manches
Hergebrachte ist der Vergleich falsch. Die Wirkung der pla—
stischen Kunst beruht auf der Einzelfigur — das Gesetz des
Dramas ist, daß die Gestalt der Hauptfigur, des Helden, zu
anderen Persönlichkeiten in ein Verhältnis, einen Konflikt tritt.
Sein Gesetz ist die Gruppe. Die Gestalt des Bildhauers
stellt einen Moment dar; in diesen Moment ist sie unbeweglich
und für immer gebannt. Die Gestalt des Dramatikers muß
von einem Moment zum anderen fortschreiten; Bewegung ist
das Gesetz des Dramas, Entwicklung, von einem Anfang zu
einem Ende, von einem Fundament zu einem Gipfel. Will
man daher die dramatische Kunst mit einer anderen vergleichen,
so gibt es nur eine, die sich zu solchem Vergleiche heranziehen
läßt, die Architektur. Wie sich im Drama der Gedanke des
Dichters von Akt zu Akt emporbaut, bis er am Schicksalsschluß
des Helden angelangt ist, so steigt vor mir, indem ich ein Bau—
werk ansehe, der Gedanke des Baumeisters in bewegter Linie
empor, von Stockwerk, zu Stockwerk, bis daß das Dach darauf
gesetzt ist, und nun das Ganze vor mir steht, als ein geschlossener
Organismus, ruhevoll, aber nicht starr, gegliedert, aber über—
sichtlich. Scheinbar ganz verschieden, in Wirklichkeit nahe ver—
wandt, sind die Materialien, mit denen der Baumeister arbeitet
und der dramatische Dichter, Steine und Tatsachen. Solange
die Steine verstreut am Boden liegen, sind es tote Blöcke,
die mir nichts sagen; sobald sie, von der Hand des Architekten
zusammengefaßt, ein Gebäude geworden sind, werden sie leben—
dig; sie sprechen zu mir und ich verstehe den großen Gedanken,
den sie aussprechen. Solange die Tatsachen unverbunden, eine