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Marie Seebach
sie die Kunde heim: „Ich bin zu spät gekommen, habe ihn nicht
mehr lebend gesehn.“ Noch heut sehe ich sie dort sitzen, auf dem⸗
selben Stuhl, auf dem sie damals „Stella“ vorlas; noch heut sehe
ich die dicken, schweren Tränen, die über ihre Wangen flossen,
und noch heut durchzuckt es mich, wie es mich damals durch-
zuckte, als sie schließlich, das Tuch hervorziehend, mit energischer
Bewegung die Tränen trocknend, das Haupt zu mir emporwarf
und mich fragte: „Na — und diesen Winter! Was bringen Sie
uns Neues?“ Ich verstand dieses Wort, ich verstand den Blick,
dieses: „Hilf mir, gib mir die Hand, daß ich mich hinausrette aus
diesem erstickenden Jammer in die reine, in die leichte Luft, in
unser gemeinsames heiliges Asyl, die Kunstl“ Fünf Minuten
darauf waren wir in angeregtem, alles andere vergessendem Ge—
spräch über Theater und dramatische Kunst, und eine halbe
Stunde später ging eine aufatmende Frau aus unserem Hause.
So steht sie vor mir, wenn ich an sie denke, die so schwer
geprüfte, keiner Prüfung unterliegende, die körperlich so schwache,
in der Seele so starke, die so oftmals bitterlich beraubte, dennoch
und trotz allem so reiche, glückliche Frau. Glücklich, weil die ge—
heimnisvolle, gabenspendende Macht ihr das verliehen hatte,
was sie nur ihren Lieblingen gewährt, was einzig und allein über
die Drangsal des Alltags hinausträgt: die Fähigkeit, über
dieser Alltagswelt eine höhere Welt zu sehen, die Göttergabe
der Phantasie.
Und so nehme ich Abschied von dir, Marie Seebach. Zum
Dank für alles, was du mir warst und was du mir gegeben
hast, versuche ich in diesen flüchtigen Zeilen dein teures Bild
noch einmal nachzuzeichnen, damit es vor die Menschen trete,
damit sie erkennen, was sie an dir besessen, was du warest, daß
du ein Typus warst der wunderbaren Menschenart, vor welcher
die anderen Menschen oft nur mit halbem Verständnis, immer
jedoch mit Staunen und unbewußter Andacht stehen — ein
Typus der großen, echten Künstlernatur.