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Besinnt Euch!
geblieben. Es muß also wohl etwas Unsterbliches an diesem
Rechte sein.
Ich gebe zu, daß unreife Geister, im Besitze solcher
Freiheit, zur Zügellosigkeit verlockt werden können. Dann prüfe
man den einzelnen Fall und, wenn es ernsthaft not tut,
richte man.
Aber man verallgemeinere nicht!
Man erkläre nicht Acht und Bann über geistige Be—
wegungen, bevor man sich die Mühe gegeben hat, die Ent—
stehung einer solchen Bewegung aus ihren inneren Gründen zu
verstehen. Und wenn man als Abgeordneter des Landes Worte
spricht, die im Lande gehört werden, so werde man sich klar
darüber, daß man dem Geiste seines Landes Schaden zufügt,
wenn man Bewegungen, zu deren Erklärung es tiefdringender
psychologischer Erkenntnis bedarf, mit einem kurzen, rohen
Worte auf äußerliche und gemeine Entstehungsursachen zurück—
führen will.
Man gebe den Versuch auf, unter staatlicher Oberaufsicht
eine allgemein giltige Brille schleifen zu wollen, durch deren Gläser
die schaffenden Individuen zu sehen haben, wenn sie die Welt
betrachten. Wäre es denkbar, daß ein derartiger Versuch ge—
länge, so würde er eine Literatur hervorbringen, schlimmer als
die zügellose, eine feige.
Denn eine zügellose Literatur mag für den Augenblick ge—
fährlicher erscheinen — eine feige ist auf die Dauer tödlich.
Die Literatur eines Volkes ist das Salz, dessen das Volk
für seinen Knochenbau bedarf. Eine feige Literatur ist kein
Salz.
Eine solche Literatur wird vielleicht Niemanden im Schlafe
stören — aber sie wird auch keinen großen Gedanken wecken.
Sie wird vielleicht zu keiner gefährlichen Leidenschaft anstacheln
— aber auch nie das Feuer edler Leidenschaft entzünden.
Wollen wir einen solchen Zustand für Deutschland bereiten?