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— Feininger legte die Feder hin, stand auf und ging im
Zimmer umher. Dann lehnte er sich ans Fensterkreuz und
starrte gedankenvoll hinaus.
„O diese modernen Dichter, wie sie auch alle heißen mögen,
können über den „‚Pathetiker“ Schiller die Nase rümpfen und sich
über ihn lustig machen!“ dachte er. „Wer aber von ihnen hätte
jemals so viel männliche Persönlichkeit gezeigt, um auch nur einen
menschheitbefreienden Gedanken zu denken, einen Repräsen—
tanten der erlösenden Tat zu verkörpern, wie Schiller? — Möchten
sie doch einmal etwas von ähnlicher Tiefe und ethischer Wirkung
auf das Volk zustande bringen!“
Wieder setzte er sich zum Schreibtisch; die Feder flog
übers Papier:
„Da disputieren die Menschen und zerbrechen sich den Kopf
über die Frage nach dem Zweck der Kunst. Ob sie moralisch
wirken solle, oder rein ästhetisch. Das Schlagwort ‚l'art pour
l'art· entstand. — Wie müßig ist doch dieser Streit! — Gewiß
soll der Künstler beim Schaffen nur das rein Künstlerische im
Auge haben, aber das fertige Werk wird, wenn es ein wirkliches
Kunstwerk geworden ist, stets eine ethische Wirkung auf die
Menschen ausüben, ob sie nun beabsichtigt war, oder nicht.
Arbeitet dagegen ein Autor speziell auf die Moral hinaus,
so entsteht ein Tendenzstück, ein Kunstwerk zweiten Ranges,
ein Mischwerk, das außer der Kunstabsicht noch andere Ziele
— nämlich die moralischen — verfolgt.
Das kann man nun nicht einmal zu Gunsten der Ethik
gutheißen, denn ein Tendenzwerk wird seine moralische Wirkung
nur in dem einen Punkte seiner Tendenz ausüben. „Nathan
der Weise‘', das hervorragendste Drama auf diesem Gebiete, wird
die Menschheit im besten Falle nur darüber belehren, daß die
Anhänger der drei Konfessionen moralisch gleichwertige Menschen
find. —
Aber die Erkenntnis stellt doch nicht das einzige Thema
der Ethik dar! Was hat etwa heute die Gleichstellung der drei
Religionen mit dem Streben nach politischer und sozialer Frei—