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würdigkeit zu verdanken hat, wenn er die Erde über ein
Komödiantenleben glatt macht.“
Dann ging man zwischen halbverfallenen Gräbern hin⸗
durch, soviel als möglich bemüht, auf dem ungleichen
Boden nicht auszugleiten, immer dem Licht der vorange⸗
tragenen Laterne folgend. Auf der Straße schritten die
Männer neben einander, ebenso die Frauen und die
Kinder. Magda ging an der Seite Oskars. „Nicht wahr,
sagte sie halblaut, „du wirst im Sommer auch immer
mit mir nach dem Kirchhof gehen, wenn wir das Grab be⸗
gießen und die ersten Blumen pflanzen?“ Oskar nickte
nur, denn die Kälte ließ ihn kein Wort hervorbringen.
Auf wenige Minuten blieb dann Herr Emanuel Sänger⸗
krug an Dorchens Seite. Die Kleine hatte, seit man vom
Grabe weggegangen war, kein einziges Wort gesprochen.
„Sie sind sehr traurig?“ fragte der Komiker plötzlich.
5 Dorchen schienen Tränen über die Wangen zu
aufen.
Ich bin recht unglücklich, Herr Sängerkrug, ich habe
mir große Vorwürfe zu machen. Denken Sie, auf diesem
Kirchhof liegt auch meine Mutter begraben, aber an der
ganz entgegengesetzten Seite, im äußersten Winkel. Es war
so dunkel, daß ich allein zwischen den Bäumen mich nicht
hingefunden hätte, aber der liebe Gott wird mir vergeben,
denn ich habe im stillen an sie gedacht und für sie gebetet.“
Einen Augenblick schwieg Sängerkrug, wie von etwas
Unerwartetem überrascht; dann fragte er wieder:
„Und ihr Vater, er liegt auch dort?“ Fräulein Dor⸗
chen antwortete nicht gleich. Des Komikers Blick ruhte
auf ihrem Gesicht. Täuschte er sich nicht bei dem flackernden
Licht der Laterne, so war es ihm, als wäre eine leichte
Röte in ihre Wangen gestiegen. Dann erwiderte Dor⸗
chen leise: „Nein — ich habe meinen Vater nie gekannt.
Ich mußte Ihnen eine Geschichte erzählen, die sehr traurig
ist, aber Sie müssen ja heute noch heiter sein, da paßt sie
schlecht für Sie.“
Max Kretzer Die Verkommenen