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er das Mädchen zu sich in seine Kammer nehmen; das sei
ja gar nicht mehr zum Aushalten. Zum Schluß stimmte die
Frau noch mit ein, und nun richtete sich der Angriff gegen
den Schlafburschen. Der habe gar nichts dazwischen zu
reden, sonst könnte er sich allenfalls samt seinen Pfand—
scheinen anderswo hinscheren.
In allen Tonarten ging es weiter. Trotz der Kälte
hörte man dann irgendwo ein Fenster öffnen, durch das
ein aus der Nachtruhe geweckter Bewohner seine Neugierde
befriedigen wollte.
Um diese Zeit kam auch gewöhnlich Herr Sängerkrug
nach Hause. Er hatte nach der Vorstellung dem edlen
Gerstensaft in ausgedehntem Maße zugesprochen und fühlte
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einer Stimmung, in der er beim Gehen laute Selbstge—
Präche hielt und sein Körper den bedenklichsten Schwan—
kungen ausgesetzt war. Er pflegte sich dann mitten auf den
Hof zu stellen, zu Madame Zierlings Fenstern emporzu⸗
blicken und etwa folgendes zu deklamieren: „Da schläft sie
mit der Geduld einer Nachteule, die mich um zehn Jahre
meines Lebens gebracht hat. Nun träumt sie von Standes⸗
amt, Trauzeugen, und dem stolzen Namen Sängerkrug.
Aber ich sage, Sie irren sich, Frau Friederike Zierling —
ich sage es nochmals, und sage es zum dritten Mal, Sie
irren sich, Frau Friederike Zierling, geborene Sauer! Ich
mich verkaufen, dem die weiblichen Augenaufschläge zu—
fliegen, wie die Motten dem Licht? Nein, eher will ich
mich, wie Franz Moor seinen Vater, selbst in den Hunger⸗
turm werfen, und nach meinem Raben rufen. Aeh,“
machte er dann noch, um seiner ganzen weltverachtenden
Stimmung Ausdruck zu verleihen.
Am meisten Veranlassung zu diesen nächtlichenHofreden
gab ihm die angenehme Aussicht, im Dunkeln die vier
Treppen hinaufklimmen zu müssen. Vor Fräulein Dor⸗
chens Fenster faßte er den Mut dazu. Sein Monolog be⸗—
kam hier eine andere Färbung. „Gute Seele, entsagungs⸗
reiches Gemüt, barmherzige Freundin der kleinen, un—