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einzige Neider, den sie hatte; und doch meinte er es gut
mit ihr, das bewiesen seine ewigen Triller, die nie herr—
licher waren, als wenn er seine Herrin lachen sah. Sie und
der Vogel hatten mit der Zeit verstanden, sich vortreff-
lich zu unterhalten. Es war rührend, zu hören, wenn Dor⸗
chen in aller Frühe die ersten Worte an den Vogel richtete:
„Was plapperst du da, mein Mätzchen, du willst frische ⸗
Wasser haben? Warte nur einen Augenblick, ich will erst
die Blumen im Garten begießen.“
Während der Vogel verständnisvoll das Köpfchen hin⸗
und herneigte, beeilte sich Dorchen, draußen am Brunnen
eine kleine Gießkanne zu füllen, um den Rosen, Fuchsien
und Nelken neue Nahrung zu geben. Dieser kleine Garten,
an dem in der Dämmerung oft traumhaft verloren ihre
Blicke hingen, wie wurde er nicht gehegt und gepflegt!
In diesem ewigen Einerlei, in diesem gleichmäßigen
endlosen Abspinnen von Stunden, Tagen und Wochen, aus
dem des einsamen Dorchens Leben bestand, kannte sie nur
einen Genuß, der sie den Bewohnern des trügerischen
Häusermeeres außerhalb dieser steinernen Insel geistig
näher brachte. Dieser zweifelhafte Genuß bestand in dem
Lesen der unwahren, das Gemüt mit falschen Vorstellungen
belastenden Kolportageromanen, mit deren gelben Heflen
das Heer der Armen und Elenden in den Vorstädten all—
räglich überschwemmt wird.
Es war fast, als hätte die steinerne Feste mannigfachen
Elends noch nicht genug unter den Einflüssen leiblicher
Sorge zu leiden, als müßte auch noch das schleichende,
literarische Gift des Volkes dazu beitragen, durch geistige
Verwirrung die Unzufriedenheit mit dem Dasein zu ver⸗
stärken. Das Haus in der Gerichtsstraße mit seinen siebzig
Familien glich einem riesigenKonsumenten, der diese, Volks⸗
literatur“ allwöchentlich in Hülle und Fülle verschlang.
Dann machte Herr Zappel, genannt Zappelius, der kleine
verwachsene Kolporteur, dessen riesige, ewig schief getretene
Stiefel mit der übergroßen Geschäftsmappe, unter deren
Last er dahergekeucht kam, vortrefflich übereinstimmten,