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zügliche Galgenphysiognomie zeigte. Und der Schutzmann
sagte zu einem neben ihm Gehenden: „Ich kenne den sau—
beren Patron, er hat bereits unter Polizeiaufsicht gestan—
den.“ Ah — so einer also! Natürlich, die Vögel erkennt
man an ihren Federn. Der konnte nur die Weihnachts-
feiertage wo anders verleben, als inmitten seiner vier
Pfähle beim Schälen der Apfel und Knacken der Nüsse unter
dem Kerzenglanz der duftenden Tanne. ...
Ida hatte nun wieder auf Merks Rückkehr zu warten.
Die Dunkelheit war völlig hereingebrochen, als Anna
keuchend vom hastigen Laufen, von ihrem Gang zurück⸗
kehrte. Den Armenarzt habe sie nicht zu Hause getroffen.
Sie sei dann noch bei zwei anderen Doktoren gewesen;
der eine habe zu einer kranken Frau gemußt, der andere
habe versprochen sofort zu kommen. Er sei aber sehr
mürrisch gewesen, und habe sie genau ausgefragt, was ihr
Vater sei, ob er Arbeit habe und wie es ihm gehe. Das
war auch ein Trost, auf den man nichts geben konnte. Wer
konnte wissen, ob der Arzt wirklich kam, und wann?
Ida konnte die Kälte nicht mehr ertragen. Sie nahm aus
der Bettstelle ein Brett und sagte zu Anna, sie solle es
unten auf dem Hof zerspalten, damit sie endlich Feuer im
Ofen bekämen. Dann schrie sie laut auf. Die kleine Kranke
in der Wiege hatte sich plötzlich mit einem jähen Ruck hoch
aufgerichtet und blickte wie geisterhaft um sich.
„Gott, — ich weiß nicht mehr, was ich machen soll,
das Kind stirbt mir unter den Händen. Ich halte es nicht
mehr aus, ich rufe um Hilfe. Es geht nicht mehr.“ In
ihrer Angst stürzte sie wirklich nach dem Fenster, um es auf⸗
zureißen. Wenn man sie jetzt ansah, mit dem unstäten,
irrenden Blick, dem zerzausten Haar und den eingefallenen,
von der Kälte blau angehauchten Wangen, flößte sie tiefes
Mitleid ein. Sie weinte laut und schallend. Als schwüle
Stille eingetreten war, klopfte es draußen, fast so zaghaft
wie in jener Nacht, als Merk aus dem Gefängnis kam und
sich nicht ins Zimmer wagte.