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Sechzehntes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

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dof durch den langen, dunklen Torweg hinaus auf die trotz 
Tauwetter menschenbelebte Straße. Er spürte nicht den 
chneidenden Schnee, auch nicht die erstarrende Kalte des 
Windes, denn es pochte ihm wild in den Schläfen. 
„Du wirst stehlen,“ sagte er plötzlich halblaut vor sich 
hin. Er bannte dabei seine Schritie, denn wie er diese 
Worte gesprochen hatte, trat drohend eine lichte Gestalt 
vor ihn hin und raunte ihm zu: „Bleibe ehrlich, denn ehr⸗ 
lich währt am längsten.“ Aber da vernahm sein Ohr im 
Geiste wieder die Klagen seines Weibes, das vor Frost 
zitterte, da sah er das Wälzen des Kindes im Fieber; da 
hörte er die Stimmen, die nach Brot riefen, und da stand 
er plötzlich vor einem erleuchteten Bäckerladen und sah 
durch die Glastür Brot, Kuchen und Semmeln im Über— 
fluß. Das alles lächelte ihn an, blinkte ihm verlockend zu, 
und doch konnte er nichts davon sein eigen nennen. Und 
seitwärts von ihm unter einer Laterne stand eine Dame, 
die im letzten Augenblick noch mit einem Händler um einen 
Christbaum feilschte. Sie hatte den Handel abgeschlossen 
und hielt in beiden Händen eine gefüllte Börse, der sie ein 
blankes Silberstück entnahm. Merks Blick glitt von dem 
Gelde zum Bäckerladen. Auf des Arbeiters Rücken saß 
plötzlich ein Teufel, der ihn zum Bösen antrieb. Er tat 
einen Satz, dann blitzschnell einen Griff, dem ein weiblicher 
Schrei folgte. Im nächsten Augenblick erschallte schon 
hinter dem rasend Davoneilenden ver Ruf: „Hallet den 
Dieb! Haltet den Dieb!“ 
Nach wenigen Minuten bot sich den Passanten ein all⸗ 
tägliches Straßenbild. Inmitten einer lärmenden und 
schwatzenden Gruppe erbuůckte man einen Mann, der, von 
zinem Schutzmann am Arm gefaßt, zur Polizeiwache des 
Reviers transportiert wurde. Der hatte also gestohlen, 
auf belebter Straße einen Raubanfall vollführt und oben⸗ 
drein an einer hilflosen Dame? Was das fuͤr ein frecher 
Mensch war, dem mußte man ein⸗ für allemal derartige 
Fingergriffe abgewöhnen. Man müsse ihn gehörig durch⸗ 
prügeln, meinte ein biederer Menschenfreund, der eine vor⸗ 
Max Kretzzer, Die Verkommenen. 27
	        
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