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Es wäre ihr vordem nie eingefallen, im Ernste daran zu
glauben, dort hinaus zu ziehen. Jetzt aber fand sie die
Sache nicht mehr so komisch. Man ging trüben Zeiten
entgegen, da mußte man reiflich überlegen.
Außerdem hatte sie ja auch in Flora Schwarz eine
liebe Freundin zur Hand, deren Nachbarschaft ihr nur will⸗
tommen sein konnte. Das ließ das Abschreckende eines
solchen Heims weniger zum Durchbruch kommen. Wenn
man einmal in den sauren Apfel beißen mußte, dann tat
man es auch schon gründlich. Die dreißig Mark Miets—
ersparnis mußten gewiß sehr zu statten kommen.
Ida meinte denn auch, daß sie jedenfalls sofort beim
Nachhausekommen mit ihrem Manne sprechen würde.
„Ist das deine Alteste?“ fragte Flora, auf Magda
deutend, die bis jetzt stumm hinter ihrer Mutter gestanden
und aufmerksam dem Gespräch der beiden Frauen ge—
lauscht hatte.
Ida bestätigte und zog den Kopf ihrer Tochter liebe—
voll an sich. „Sie sitzt schon in der ersten Klasse,“ sagte
sie dann, „aber seit acht Tagen hat sie die Schule nicht be—
sucht, weil ihr Kleid zu schlecht war. Sie kann sich in dem
Faden vor anständigen Leuten nicht mehr sehen lassen.
Ich will sehen, daß ich ihr morgen derben Stoff zu einem
neuen kaufen kann, billig natürlich, das kannst du dir
denken.“
Meinem Jungen geht's ebenso,“ fiel die Mäntelnäherin
ein. „Du siehst ja, wie traurig er aussieht, er ist über—
haupt immer sehr elend und kräntech. Im nächsten Jahre
aber muß er tapfer mit verdienen. Er hat eine sehr gute
Handschrift, ich möchte, daß er als Schreiber etwas ver⸗—
diene. Er war überhaupt von jeher sehr fleißig und ver⸗
schlang jedes Buch, das er in die Hände bekam. Nicht wahr,
Oskar, du wirst später mal recht brav werden?“
Die Mäntelnäherin zog ihren Sohn, der, vor Frost
zitternd, nur stumm nickte, ebenfalls an sich. „Nun gebt
euch mal die Hände,“ sagte sie, zu den beiden Kindern ge—