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Wie er jetzt wieder zu ihr herniederblickte, lag in dem Aus—
druck seiner Augen die ganze Fülle der aufrichtigen Ge—
fühle, die er diesem lieben Geschöpfe seit Jahren entgegen—
brachte. Wie oft hatte er sich nicht vorgenommen, sie daran
zu erinnern, daß sie ihm die Geschichte ihres Lebens erzäh⸗
len möchte, damit er auch eine Anwartschaft auf das habe,
was sich Liebende untereinander niemals verschweigen
sollen. Aber er kam nicht weiter, als bis zur Einleitung dazu.
Wenn er bei Gelegenheit anfing: „Fraͤulein Dorchen, Sie
wollten mir doch —,“ so unterbrach er sich auch bereits.
Weshalb mit Gewalt in der Brust dieser Einsamen Erinner⸗
ungen wachrufen, die ihm vielleicht die Köstlichkeit des kur—
zen Beisammenseins nehmen würden? So blieb es also da⸗
bei: er kannte nur ein Dorchen Hartwig, ohne jemals erfah⸗
ren zu haben, daß auf ihrem Mietquittungsbuche der Name
„Fräulein Lichtergang, genannt Hartwig“, zu lesen war.
„Sie werden also gehen?“
„Sie können noch fragen ?“
„Gott segne Sie dafür, meine Liebe.“ Er zog ihren
Kopf an seine Brust und küßte sie auf die Stirn heiß und
brennend. Und sie weinte plötzlich, ihre Brust arbeitete wie
wild, sie wußte eigentlich nicht weshalb. War es aus
Schmerz oder aus Freude? Sie klammerte sich an ihn
fest, als spürte sie die Stärke dieses Armes, der sie be—
schůtzen sollte.
„Emanuel —.
„Dorchen, mein liebes Dorchen.“
Dann schieden sie. Er, um zu lachen, und sie, um die
Schmerzenstöne einer Kranken zu vernehmen.
Eines Tages wurden die Bewohner der Mietskaserne
durch die Nachricht überrascht, daß der Vizewirt, Herr
Christoph Zipfel, die Absicht hege, seinen Budikerkeller auf—
zugeben, um nach einem vornehmen Stadtteile zu ziehen.
Unserem weltklugen Gastwirt paßte es nicht mehr, als
Restaurateur letzten Ranges eine plebejische Rolle zu spie⸗
len. Sein Geschäft hatte mit der Zeit ein nettes Sümmchen
abgeworfen, und so war er plötzlich auf den Einfall ge—
Max Kretzer, Die VBerkommenen. 23
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