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liche Wohltat zu sein, sich einmal zu einer alten liebenl
Freundin recht aussprechen zu dürfen. Sie verkehrte in
ihrem Hause mit niemand, hatte für jedermann immer nur
einen „Guten Tag“ und „Guten Weg'“ bereit.
„Komm doch ein wenig in den Hausflur,“ sagte sie
wieder, „heute spürt man's. Arme Flora,“ fügte sie dann
Dnehis hinzu, „du gehst immer noch in deinem dünnen
Tu
Sie faßte in guter Absicht nach der Stirn der Mäntel⸗
näherin und strich ihr das Haar zurück.
Frau Schwarz atmete lang auf; dann erwiderte sie:
„Ich komme nicht dazu, mir meinen Mantel holen zu
können. Seit dem Mai hängt er bei Laibs. Die Motten
werden sich wohl schon über ihn hergemacht haben, be—⸗
denke, es sind sechs Monate. Ich wollte ihn mer nach
dem Königlichen Leihamt tragen, konnte es aber bis jetzt
nicht, trotzdem nur drei Taler darauf stehen. Die letzten
zwei Monate habe ich noch gar nicht verzinsen können,
und ich muß doch alles aufbieten, damit mir dies einzige
Stück nicht verfällt. Ich sage dir, ich verdiene blutwenig.
Jetzt arbeite ich für ein Geschäft in der Rosentalerstraße.
Du wirst den Laden kennen. Früher hatten A ö das Ge—
schäftslokal, jetzt verkauft Siemon Baruch Anenmäntel in
ihm. Mit Mühe und Not habe ich es sowe gebracht, daß
er mir die Arbeit mit nach Hause gibt. Vierzehn Tage
lang machte ich Morgens und Abends der Weg von der
Gerichtsstraße nach dort, hin und zurück. Du kannst dir
denken, daß die Füße mir manchmal wund waren. Den
ganzen langen Tag bei einer Tasse Kaffee und einer Schrip⸗
pe des Mittags — da hing mir der Magen. Mir wurde oft
unwohl, aber was will man machen? Es ist ein saures
Brot, den Tag und die halbe Nacht hindurch bei der Nadel
zu sitzen, daß die Augen zu tränen beginnen. An mir liegt
ja nicht viel, ich bin zufrieden, wenn ich Kaffee und Brot
habe, aber die Kinder, die machen mir doch das Herz
schwer. Die Jakob kochte für sie mit, wenn ich nicht zu
hause war, das wurde mir teuer genug bei dem Vreis,