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Zwölftes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

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Augen fest auf Oskar und sage mit ruhiger Stimme: Ich 
bin kein Jude, — wenigstens nicht in dem Sinne, wie du 
es meinst. Kann ich dafür, daß ich jüdischer Abstammung 
bin? Du irrst dich, ich werde nicht zum Krämer werden. 
Sieh, wir sind beide gleich arm geboren, wir haben alle 
Veranlassung, die Tage unserer Kindheit nicht zu vergessen. 
Höre: mein Vater war Sozialist vom reinsten Wasser. 
Meine Mutter erzählte mir oft, wie er nur ein Glaubens— 
bekenntnis kannte, und das hieß: „Menschlich sein, menschlich 
denken, menschlich empfinden und menschlich handeln.“ 
Oskar lachte bitter auf. „Phrase, weiter nichts als 
Phrase.“ 
Leonhard Sirach fuhr fort: Das macht uns alle gleich —: 
daß wir das Bestreben zeigen, das, was wir sprechen 
mit dem, was wir tun, zu decken. Habe ich anders gehandelt, 
als ich gesprochen habe? Du schweigst. Siehst du nun, wie 
unrecht es war, mich allein als Individuum verantwortlich 
zu machen für die Handlungen vieler meiner Glaubens— 
brüder? Bleibt der Wald nicht auch noch ein Wald, wenn 
man nur einen Baum fällt? Das ist unchristlich, unmensch— 
lich: daß man dem einzelnen fühlen läßt, was Tausende 
verschuldet haben. Dein Brotherr ist ein Christ, ich weiß, 
du plagst dich von früh bis spät und wie man deine Kräsfite 
aussaugt. Wenn ich nun du wäre, würde von deinem Chef 
gemein behandelt werden, würde dir begegnen, wie du 
mir heute, und würde in maßvoller Wul zu dir sagen: 
„Du Christ!“ würde ich dadurch menschlicher handeln, als 
derjenige unmenschlich gehandelt hat, der mich soeben meine 
Armut fühlen ließ? Nein, — ich würde unter ihm stehen, 
denn ich hätte das beschimpft, was gleich ist dem Blute, 
das in seinen Adern rollt: seinen Glauben, der nicht zu 
töten ist. Darum will ich wie mein Vater weder Jude noch 
Christ, sondern Mensch sein. Siehst du, das fehlt der moder⸗ 
nen Generation, daß sie ihren Kindern zu viel Glauben lehrt 
und zu wenig menschliches Bewußtsein. Statt sich am die— 
genbogen zu erfreuen, der alles überbrückt, streitet man sich 
um die einzelnen Farben, welche schöner, welche schlechtet
	        
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