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Augen fest auf Oskar und sage mit ruhiger Stimme: Ich
bin kein Jude, — wenigstens nicht in dem Sinne, wie du
es meinst. Kann ich dafür, daß ich jüdischer Abstammung
bin? Du irrst dich, ich werde nicht zum Krämer werden.
Sieh, wir sind beide gleich arm geboren, wir haben alle
Veranlassung, die Tage unserer Kindheit nicht zu vergessen.
Höre: mein Vater war Sozialist vom reinsten Wasser.
Meine Mutter erzählte mir oft, wie er nur ein Glaubens—
bekenntnis kannte, und das hieß: „Menschlich sein, menschlich
denken, menschlich empfinden und menschlich handeln.“
Oskar lachte bitter auf. „Phrase, weiter nichts als
Phrase.“
Leonhard Sirach fuhr fort: Das macht uns alle gleich —:
daß wir das Bestreben zeigen, das, was wir sprechen
mit dem, was wir tun, zu decken. Habe ich anders gehandelt,
als ich gesprochen habe? Du schweigst. Siehst du nun, wie
unrecht es war, mich allein als Individuum verantwortlich
zu machen für die Handlungen vieler meiner Glaubens—
brüder? Bleibt der Wald nicht auch noch ein Wald, wenn
man nur einen Baum fällt? Das ist unchristlich, unmensch—
lich: daß man dem einzelnen fühlen läßt, was Tausende
verschuldet haben. Dein Brotherr ist ein Christ, ich weiß,
du plagst dich von früh bis spät und wie man deine Kräsfite
aussaugt. Wenn ich nun du wäre, würde von deinem Chef
gemein behandelt werden, würde dir begegnen, wie du
mir heute, und würde in maßvoller Wul zu dir sagen:
„Du Christ!“ würde ich dadurch menschlicher handeln, als
derjenige unmenschlich gehandelt hat, der mich soeben meine
Armut fühlen ließ? Nein, — ich würde unter ihm stehen,
denn ich hätte das beschimpft, was gleich ist dem Blute,
das in seinen Adern rollt: seinen Glauben, der nicht zu
töten ist. Darum will ich wie mein Vater weder Jude noch
Christ, sondern Mensch sein. Siehst du, das fehlt der moder⸗
nen Generation, daß sie ihren Kindern zu viel Glauben lehrt
und zu wenig menschliches Bewußtsein. Statt sich am die—
genbogen zu erfreuen, der alles überbrückt, streitet man sich
um die einzelnen Farben, welche schöner, welche schlechtet