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Herr Zappel habe die Hefte gebracht, meinte Marie,
sie sei schon beim vierten, es lese sich so schoͤn, aber es über⸗
laufe sie manchmal eiskalt. Oskar durchzuckte es schmerz⸗
voll. Soweit mußte es kommen, daß seine Schwester von
dem Gifte genoß, das er selbst bereitete! Tiefe Scham
befiel ihn. Er hätte nicht gestehen können, daß er das ge—
schrieben habe, und wenn es sich dabei um sein Todesurteil
gehandelt hätte.
Er entriß dem Kinde die Blätter und ballte sie so heftig
zusammen, daß Marie ihn groß ansah. Dann schritt er zum
eisernen Ofen und übergab die Hefte den Flammen. „Nie
mehr wirst du ein gelbes Heft in die Hand nehmen, hörst
du? Nie mehr. Das regt die Mutter auf, wenn du ihr vor⸗
liest. Und wenn der Kolporteur kommt, weisest du ihn ab.“
Frau Schwarz rief ihn dann mit matter Stimme zu
sich heran. Er möchte zu Simon Baruch nach der Rosen⸗
talecstraße gehen. Sie bekomme noch für die letzten vier⸗
zehn Tage Geld, man könne es jetzt recht gut gebrauchen;
man müsse dem Arzt gleich bei seinem Wiederkommen et—
was geben, sonst verliere er das Vertrauen. Oskar könne
auch gleich die verschriebene Medizin mitbringen. Dort
in ihrem Nähkorbe liege das blaue Arbeitsbuch. Das Ge—
schäft sei zwar heute noch geschlossen, aber Baruch werde
in seiner Wohnung eine Treppe hoch zu finden sein.
Der heutige Tag war ein Sonnabend, Mitte Septem⸗
ber. Schwarzens hatten kein Geld im Hause, die Mäntel-
näherin hatte gehofft, wenn sie aufgeblieben wäre, ihren
Arbeitslohn persönlich in Empfang nehmen zu können.
Hätte Oskar eine Ahnung von dem Unglück gehabt, so hätte
er sich von seinem Chef einen Vorschuß geben lassen. Er
nahm sich vor, es am Montag zu tun. Er ging.
Es war ein sonniger Tag, am frühen Nachmittag. Je
mehr Oskar sich der Rosenlalervorstadt näherte, je mehr
mußte ihm das völlig veränderte Aussehen des Straßen—⸗
lebens auffallen. Endlich fand er eine Erklärung: Die
Juden feierten ihr Neujahrsfest. Mit dem heutigen Sonn⸗
abend wurde das Fest beschlossen, mit ihm aber hatte der