15 —
Merk der vor ihr Gehenden nach: „Flora, höre auf einen
Augenblick !
„Ida, du —?“ Die Mäntelnäherin war erstaunt,
plötzlich hier eine alte Bekannte zu treffen, die sie seit Jah—
ren nicht mehr gesehen hatte. Beide waren Freundinnen.
Man hatte in den Mädchenjahren zusammen auf einem
Flur gewohnt. Die Frauen freuten sich herzlich und
schüttelten sich aufrichtig die Hand, dann glitt Floras Blick
über die noch saubere, winterliche Kleidung Idas, und
dabei wurde sie sich mehr denn je ihrer äußerlichen Be—
schaffenheit bewußt. Als sie jetzt sah, daß auch die Augen
ihrer Freundin auf ihr ruhten, hatte sie in ihrer dürftigen
Lage das Gefühl einer gewissen Beschämung, das sie den
Blick niederschlagen ließ.
„Du siehst mich so erstaunt an,“ sagte sie dann leise.
„Du wirst dich wundern, mich so wieder zu finden, aber
es geht mir schlecht, sehr schlecht, seitdem mein Mann tot
ist und die Kinder keinen Vater mehr haben.“
Ida war tief gerührt und machte eine abwehrende Be—
wegung. Sie hielt noch immer die von Frost gerötete
Hand ihrer Freundin und drückte sie aufs innigste. „Arme
Flora,“ begann sie dann mit bewegter Stimme, „für Un—
glück kann kein Mensch, am allerwenigsten eine allein—
stehende Frau, die ohne Stütze und Hilfe ist. Es kann uns
jetzt ebenso gehen wie dir. Merk hat bereits seit acht Wochen
keine Arbeit, es ist auch keine Aussicht vorhanden, daß er
welche erhält. Dazu kommt, daß er obendrein darauf ver—
sessen ist, ich solle nicht wieder als Poliererin gehen. Er
würde sich eher als Hausknecht verdingen. Schließlich wird
uns doch nichts anderes übrig bleiben, denn bei dem Ver—
setzen kommt auf die Dauer nicht viel heraus. Das ist nun
einmal das Los von uns Arbeiterfrauen, aber ich tue es
gern, denn Merk hat immer brav an mir gehandelt. Du
solltest nur wissen, wie glücklich wir während unserer vier—
zehnjährigen Ehe gelebt haben, ehe die schlechten Zeiten
in den Fabriken eintraten.“
.So warst du also auch bei dem Halsabschneider *