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Neuntes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

238 —— 
Die Sünden der Väter sollen heimgesucht werden an 
den Kindern. Rosa Jakob war die Verkörperung dieses 
Gebotes. Wenn sie jetzt wieder an die ehrlichen Absichten 
des Kesselschmiedes dachte, hätte sie wie immer lachen 
mögen, aber sie empfand nicht die geringste Lust dazu in— 
mitten dieser kahlen Wände, deren Anblicksie frösteln machte: 
„Da fällt mir ein, Herr Kaulmann, Sie hatten mir 
am Mittwoch drei Mark geliehen,“ sagteFraudakob plötzlich. 
Der Kesselschmied machte eine abwehrende Handbe— 
wegung, blieb aber ruhig. 
Und Frau Jakob fuhr fort: „Ich weiß gar nicht mehr, 
wieviel ich Ihnen eigentlich schulde; aber warten Sie, ich 
muß Ihnen heute etwas geben.“ Sie faßte wirklich in ihre 
Kleidertasche. Das machte sie immer so, ohne jedoch ihre 
Absicht jemals auszuführen. 
„Aber lassen Sie doch, Frau Jakob, ich war ein Freund 
Ihres Mannes,“ gab Kaulmann zurück. 
Frau Jakob richtete einen vielsagenden Blick auf ihre 
Tochter. Als Rosa kein Verständnis dafür zu haben schien, 
sagte sie endlich: „Rosa, wenn du vielleicht noch einen 
Taler übrig hättest, — Herr Kaulmann wird ihn gebrauchen 
können.“ 
Rosa konnte nicht gut mehr schweigen. „Gewiß — 
wenn du das Geld Herrn Kaulmann schuldest —“ Sie 
wunderte sich darüber, wie geläufig ihr dieses „Herr“ ge⸗ 
worden war. Dann griff sie nach ihrem Portemonnaie und 
schob ihrem Gegenüber das Geld auf die Platte hin. 
„Da bitte —,“ sagte sie kurz. 
Jetzt erst blickte der Kesselschmied auf. Seine Augen 
ruhten einen Augenblick prüfend auf ihrem Antlitz, ernst, 
ohne daß sich seine Miene dabei veränderte. Und derselbe 
Blick glitt über die ganze Gestalt Rosas bis zu ihren Füßen, 
und wieder zurück von unten nach oben, sodaß sie fühlte, 
wie es ihr brühwarm wurde und sie die Wimpern senken 
mußte. Und wenn er ihr zum zweiten Male eine Ohr⸗ 
feige gegeben hätte, wie damals vor einem Jahre, — sie 
hätte bei diesem stummen und vielsagenden Anschauen
	        
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