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Neuntes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

236 — 
Frau Jakob betrachtete jetzt ihre Tochter beim Licht der 
Lampe. Und nun nahm ein Staunen, ein Fragen, ein 
Beschauen von unten bis oben seinen Anfang, an dem die 
Kinder sich auf das lebhafteste beteiligten, und das während 
einer Viertelstunde nicht aufhören wollte. Rosa gab sofort 
Geld zu Kaffee, Brot und Butter. Minna möge auch etwas 
zum Auflegen mitbringen. Da saß sie nun in glänzender 
Toilette auf einem wackeligen Holzschemel, umgeben von 
hungrigen Gestalten, die sie wie ein Wundertier begafften 
und zur Abwechselung auch betasteten. Sie fand, daß sie 
friere und daß sie ein unbehagliches Gefühl überkomme, 
als hätte man ihr tausend Peitschenhiebe angeboten. Sie 
schüttelte sich förmlich, so durchschauerte es sie bei dem Ge— 
danken, daß sie jemals diese Gesellschaft hier durch ihre 
Person wieder vermehren könne. 
Frau Jakob geriet in Bewegung und wurde sehr freund⸗ 
lich zu ihrer Tochter. Sie sollte doch den Paletot ablegen 
und die Handschuhe abziehen. Ob sie denn gleich wieder 
fort wolle? Erst würde man einen derben Kaffee kochen. 
Und sie schlurfte auf ihren ausgetretenen Filzschuhen vom 
Tisch zum Ofen, vom Ofen wieder zum Tisch, drehte und 
wendete Rosas Paletot, befühlte den Stoff ihres Kleides, 
betrachtete Handschuhe und Schleier, stellte ein Dutzend 
Fragen zu gleicher Zeit, ließ den harten Taler in ihrer 
Tasche verschwinden, den Rosa ihr hingeschoben hatte, 
kramte unter Kochtöpfen und Pfannen, brachte ein paar 
henkellose Tassen und Gläser hervor, rumorte wie eineFrau, 
der soeben ein ganz besonderes Glück zu teil geworden ist, 
und zeigte die ganze Freude einer es nicht genau mit den 
sittlichen Anschauungen nehmenden Mutter, die einen 
Dummstolz angesichts des unerklärlichen Glückes ihrer 
Tochter empfindet. 
Die Kinder fielen inzwischen über den Kuchen her und 
verzehrten ihn heißhungrig bis auf die Krümel. Rosa zuckte 
plötzlich zusammen. Am eingebauten Fenster hatte sich 
eine lange Gestalt erhoben, die auf sie zutrat und sie be⸗ 
grüßte. Es war Kaulmann, den die Nische ihren Blicken
	        
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