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zu den Leuten gehört, die nur Gutes von Ihnen gesprochen
haben; man hat Sie von jeher unterschätzt.“
Fräulein Rosa dämpfte ihre Stimme, und Frau Müller
neigte ihren Kopf tief und erwartungsvoll. „Frau Müller,
was werden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen die Ver—
sicherung gebe, daß ich eines Abends Merks Tochter mit
einem feinen, alten Herrn von der Straße spurlos verschwin⸗
den sah? Ich ging zufällig mit meinem Schatz denselben
Weg entlang. Wir hatten noch Appetit auf eine Tasse
sKaffee und steuerten den Linden zu.“
„Oh — oh — Fräulein Rosa, Sie jagen mir das Ent⸗
setzen durch alle Glieder !“ —
„Aber ich will nichts gesagt haben. Sie werden mich aus
dem Spiel lassen, nicht wahr, meine liebe Frau Müller ?
„Verlassen Sie sich darauf, liebstes Fräulein Rosa, ich
bin eine verschwiegene Frau; Adieu, Adieu, grüßen Sie
Ihre Mutter vielmals von mir.“
Frau Müller war wirklich eine verschwiegene Frau.
Als sie im Flur des Vorderhauses angelangt war, begegnete
ihr Madame Werner, die Frau des Feilenhauers im ersten
Stockwerk des linken Seitenflügels. Man brachte das Ge—
spräch von ungefähr auf Merks.
„Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen, meine liebe
Frau Werner, die geradezu schauerlich sind, aber man tut
besser, wenn man seine Zunge im Zaume vaält.“
„Frau Müller, ich glaube, daß man wich immer nur
oon der besten Seite kennen gelernt hat; ich Lin eine repu⸗
tierliche Frau, die keine Klatschereien liebt.“
Nach zehn Minuten hatte sich Frau Müller von einer
erdrückenden Last befreit. Was sie erzählte, war gerade
genug, um nach dem zweiten Stockwerk des Quergebäudes
mit einer Miene zu blicken, als wohnte da oben ein Ge—
sindel, vor dem man drei Kreuze schlagen müsse.
„Aber Frau Werner —“
„Beruhigen Sie sich, meine beste Frau Müller, ich habe
nichts gehört.“ Frau Werner hatte in der Tat nichts gehört
und war im übrigen wirklich eine reputierliche Frau.