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Neuntes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

232 — 
zu den Leuten gehört, die nur Gutes von Ihnen gesprochen 
haben; man hat Sie von jeher unterschätzt.“ 
Fräulein Rosa dämpfte ihre Stimme, und Frau Müller 
neigte ihren Kopf tief und erwartungsvoll. „Frau Müller, 
was werden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen die Ver— 
sicherung gebe, daß ich eines Abends Merks Tochter mit 
einem feinen, alten Herrn von der Straße spurlos verschwin⸗ 
den sah? Ich ging zufällig mit meinem Schatz denselben 
Weg entlang. Wir hatten noch Appetit auf eine Tasse 
sKaffee und steuerten den Linden zu.“ 
„Oh — oh — Fräulein Rosa, Sie jagen mir das Ent⸗ 
setzen durch alle Glieder !“ — 
„Aber ich will nichts gesagt haben. Sie werden mich aus 
dem Spiel lassen, nicht wahr, meine liebe Frau Müller ? 
„Verlassen Sie sich darauf, liebstes Fräulein Rosa, ich 
bin eine verschwiegene Frau; Adieu, Adieu, grüßen Sie 
Ihre Mutter vielmals von mir.“ 
Frau Müller war wirklich eine verschwiegene Frau. 
Als sie im Flur des Vorderhauses angelangt war, begegnete 
ihr Madame Werner, die Frau des Feilenhauers im ersten 
Stockwerk des linken Seitenflügels. Man brachte das Ge— 
spräch von ungefähr auf Merks. 
„Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen, meine liebe 
Frau Werner, die geradezu schauerlich sind, aber man tut 
besser, wenn man seine Zunge im Zaume vaält.“ 
„Frau Müller, ich glaube, daß man wich immer nur 
oon der besten Seite kennen gelernt hat; ich Lin eine repu⸗ 
tierliche Frau, die keine Klatschereien liebt.“ 
Nach zehn Minuten hatte sich Frau Müller von einer 
erdrückenden Last befreit. Was sie erzählte, war gerade 
genug, um nach dem zweiten Stockwerk des Quergebäudes 
mit einer Miene zu blicken, als wohnte da oben ein Ge— 
sindel, vor dem man drei Kreuze schlagen müsse. 
„Aber Frau Werner —“ 
„Beruhigen Sie sich, meine beste Frau Müller, ich habe 
nichts gehört.“ Frau Werner hatte in der Tat nichts gehört 
und war im übrigen wirklich eine reputierliche Frau.
	        
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