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Zwischen dem Sohn der jüdischen Produktenhändlerin
und dem Sohn der Mäntelnäherin hatte sich während der
Zeit, da Magda des Morgens fortging, um des Abends spät
erst wieder heimzukehren, eine aufrichtige Freundschaft
entwickelt, die sie täglich in dem Hinterzimmer der Frau
Sirach zusammenführte. Beide hatten dasselbe unausge—
sprochene Gefühl: von dem Streben nach etwas Höherem
beseelt zu sein, das abseits von der gemeinen Umgebung
lag, die sie Tag für Tag vor Augen hatten. Leonhard Sirach
erschloß Oskar Schwarz, der nur eine Volksschuse besucht
hatte, eine neue Welt geistiger Genüsse. Er stellte ihm
seine bescheidene Bibliothek klassischer Werke zur Verfü—
qung und belehrte ihn, so viel er konnte.
Binnen wenigen Monaten war mit Oskar eine völlige
Umwandlung vorgegangen. Er fühlte sich durch den Um—
gang mit Leonhard um Jahre gereifter, betrachtete die
Welt mit anderen Augen. Sein geistiger Blick hatte sich er—
weitert; er sah jetzt klar, was ihm zuvor wie ein Chaos er⸗
schienen war und nahm Bilder in sich auf, die ihm unver⸗
geßlich blieben.
Frau Sirach hatte ihre herzliche Freude an dem steten
Besuche des Freundes. Sie hatte auch immer etwas übrig
für die Mutter und Schwester Oskars. Oft schickte sie des
Mittags eine Portion Fleisch hinüber, mit der Bitte, das
Essen nicht abzulehnen; es sei nur für die kleine Marie be—
stimmt. Diese Portion war aber groß genug für zwei Per—
sonen, sodaß auch die Mäntelnäherin an dem Mahle teil-
nehmen konnte.
Leonhard und Oskar unternahmen auch ihre Spazier—⸗
günge, gerieten des Abends in das bewegte Straßenleben
des Berliner Zentrums, wo sie Arm in Arm, wie zwei blut⸗
junge Studenten, mit leeren Taschen von ihren Idealen
sprachen und als reine Naturen nichts von dem neidischen
Vefühl empfanden, das den Genußmenschen mit leerem
Portemonnaie beim Flanieren durch die lebenslustige Menge
überkommt. Und in diesem Gewühl des nie rastenden
Berlins begann sich der geistige Unterschied zwischen Musiker