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Achtes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

213 — 
Zwischen dem Sohn der jüdischen Produktenhändlerin 
und dem Sohn der Mäntelnäherin hatte sich während der 
Zeit, da Magda des Morgens fortging, um des Abends spät 
erst wieder heimzukehren, eine aufrichtige Freundschaft 
entwickelt, die sie täglich in dem Hinterzimmer der Frau 
Sirach zusammenführte. Beide hatten dasselbe unausge— 
sprochene Gefühl: von dem Streben nach etwas Höherem 
beseelt zu sein, das abseits von der gemeinen Umgebung 
lag, die sie Tag für Tag vor Augen hatten. Leonhard Sirach 
erschloß Oskar Schwarz, der nur eine Volksschuse besucht 
hatte, eine neue Welt geistiger Genüsse. Er stellte ihm 
seine bescheidene Bibliothek klassischer Werke zur Verfü— 
qung und belehrte ihn, so viel er konnte. 
Binnen wenigen Monaten war mit Oskar eine völlige 
Umwandlung vorgegangen. Er fühlte sich durch den Um— 
gang mit Leonhard um Jahre gereifter, betrachtete die 
Welt mit anderen Augen. Sein geistiger Blick hatte sich er— 
weitert; er sah jetzt klar, was ihm zuvor wie ein Chaos er⸗ 
schienen war und nahm Bilder in sich auf, die ihm unver⸗ 
geßlich blieben. 
Frau Sirach hatte ihre herzliche Freude an dem steten 
Besuche des Freundes. Sie hatte auch immer etwas übrig 
für die Mutter und Schwester Oskars. Oft schickte sie des 
Mittags eine Portion Fleisch hinüber, mit der Bitte, das 
Essen nicht abzulehnen; es sei nur für die kleine Marie be— 
stimmt. Diese Portion war aber groß genug für zwei Per— 
sonen, sodaß auch die Mäntelnäherin an dem Mahle teil- 
nehmen konnte. 
Leonhard und Oskar unternahmen auch ihre Spazier—⸗ 
günge, gerieten des Abends in das bewegte Straßenleben 
des Berliner Zentrums, wo sie Arm in Arm, wie zwei blut⸗ 
junge Studenten, mit leeren Taschen von ihren Idealen 
sprachen und als reine Naturen nichts von dem neidischen 
Vefühl empfanden, das den Genußmenschen mit leerem 
Portemonnaie beim Flanieren durch die lebenslustige Menge 
überkommt. Und in diesem Gewühl des nie rastenden 
Berlins begann sich der geistige Unterschied zwischen Musiker
	        
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