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Frau Friederike Zierling vermochte eine derartige An—⸗
klage nicht mehr zu ertragen. „Herr Manuel,“ sagte sie,
„daß ich das um Sie verdient habe!“ Sie nahm den Zipfel
ihrer Schürze und wischte sich die Augen. „Aber fahren
Sie nur fort, — recht so. Ehe man zieht, kann man sich
doch noch einmal aussprechen, nicht wahr?“
Und Herr Emanuel Sängerkrug kam dieser Aufforde⸗
rung nach. „Wissen Sie, was das heißt, sehr geehrtes Fräu—
lein Dorchen, elf entsetzlich lange Jahre, mit einem leuchten⸗
den Ideal im Herzen, in den prosaischen Fesseln einer Frau
zu liegen, die nicht imstande ist, die geringste geistige An⸗
regung zu geben? Wissen Sie, was das für einen Künstler
heißt, der ohne das Aroma seiner Kunst nicht leben kann?
Ich bitte Sie, richten Sie Ihre rehbraunen Augen noch ein⸗
mal auf jene Frau dort, der das böse Gewissen bereits die
Tränen in die Augen getrieben hat. Ich bin ein Mann der
Wahrhaftigkeit. Gewiß, sie besitzt ihre vorzüglichen Eigen—
schaften, die allerseits geachtete Madame Zierling: sie kann
vorzüglich kochen, sie bereitet Ihnen einenKaffee — superb!
Sie wäscht, sie plättet ausgezeichnet — Sie sollten meine
Oberhemden sehen, sie gleichen an Weiße und Glanz dem
Glacpapier comme il faut — alle Achtung, wirklich alle
Achtung! Man sollte dereinst Madame Zierling ein Denk⸗
mal setzen mit der Aufschrift: „Sie hatte drei vorzügliche
Eigenschaften: sie kochte gut, sie wusch gut, sie plaͤttete
gut.“ Aber hören Sie nur weiter: Jene Frau dort, deren
vortrefflichen Eigenschaften ich soeben alle Gerechtigkeit
widerfahren ließ, trägt eine Schuld mit sich herum, die
durch nichts, ich sage nochmals, durch nichts gut zu machen
ist: sie hat mich zu einem höchst unglücklichen Manne ge—
macht, dem das Leben heute wie eine Last erscheint. O,
mein verehrtes Fräulein Dorchen, wenn Sie in das Seelen⸗
leben eines Künstlers blicken könnten !“
Der berühmte Kneipenmime hatte einen Ton ange—
chlagen, der unter allen Umständen rühren mußte. Er ging
in dem kleinen Zimmer auf und ab, blieb dann wieder
zwischen den beiden Frauen stehen und donnerte den Schluß
MWax Kretzer, Die Verkommenen. 14