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sagen, von naiver Genialität in ihm aus. Es ist merkwuürdig,
höchst merkwürdig!“
Er nahm das Bild, hielt es mit ausgestreckten Armen
von sich, betrachtete es mit zugekniffenen Augen uud zog
es dann wieder näher zu sich heran. Zeigefinger und
Daumen seiner rechten Hand spitzten sich zusammen, um
durch nachdrückliche Bewegungen jedes Wort der ferneren
Erläuterungen zu bekräftigen.
„Wie natürlich der Kopf — wie die Falten des Kopf⸗
kifsens sich deutlich ausprägen, —selbst den Zug des Leidens
auf Ihrem Gesicht glaube ich zu erkennen. Und wahrhaftig,
da im Hintergrund ist auch der eiserne Ofen, auf dem die
große Kaffeekanne steht. Brav von dir, mein Sohn, brav,
sehr, sehr brav!“ Er zog den Knaben, der mit leuchtenden
Augen und halb geöffnetem Munde neben ihm stand, zu
sich heran und fuhr ihm mit der Hand über das Haar.
Dann wieder, zu Frau Merk gewandt, fuhr er fort:
„Was meinen Sie wohl, meine verehrte Frau Merk, was
sich die Welt draußen daraus macht, ob ein Talent zu⸗
grunde geht oder nicht? Da steckt nun hier so ein kleiner
Kerl in unserem verschrieenen Familienhause, besitzt ein
fabelhaftes Genie und hat die schönste Aussicht vor Augen,
frühzeitig mit seinen glänzenden Anlagen in den schmutzigen
Tümpel zu fallen, den man den Kampf ums Dasein nennt.
O, wie viele in meiner erhabenen Kunst habe ich gekannt,
die zugrunde gegangen sind, weil niemand da war, der
ihnen die Hand anbot, um sie auf den richtigen Platz der
großen Schaubühne des Lebens zu ziehen. O, wir leben
in einer gottgepriesenen Zeit. Wir predigen die Menschen—
liebe mit tausend Fässern Tinte, aber ziehen uns erst Glac—
handschuhe an und träufeln wohlriechende Essenzen in unser
Taschentuch, wenn wir hinab in die Stätten des Elends
steigen sollen; wir berufen uns tagtäglich auf das große
Wort des Heilandes: Hilf deinem Nächsten, und berechnen
dabei weise, wieviel wir bei dieser Hilfe verdienen. Wir
gehen allsonntäglich fromm in die Kirche und hören gar
feierlich das Wort Gottes an, so da lehrt, daß die Grausam⸗