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der Zeit getrieben hatte. Sie habe sich freiwillig dazu er—
boten, in den Kneipen handeln zu gehen, um für die Mutter
und ihre Geschwister zu verdienen. Wenn sie bei solcher
Gelegenheit aufrichtige Tränen weinte, so erweckte sie das
innigste Mitleid Idas, die in ihrer Tochter ihr eigenes Eben—
bild erblickte. Das war dieselbe Aufopferung für die
Nächsten, durch welche Frau Merk zur entsagungsreichen
Mutter geworden war.
Am Tage nach jener Nacht mußte man selbst Frau
Schwarz und Fräulein Dorchen zu täuschen versuchen,
Magda könne das Kinderschleppen nicht mehr vertragen;
außerdem hätte man ihr zugemutet, des Abends sehr spät
zu bleiben, und so habe Frau Merk ihre Tochter zu Hause
behalten. Damit beruhigte man sich allgemein.
Am Nachmittag beehrte Herr Emanuel Sängerkrug
Merks mit seinem Besuch, um sich nach dem Befinden
Magdas zu erkundigen. Als Ida ihm vom Bett aus die
Hand reichte, standen ihr die Tränen in den Augen. Der
Komiker fühlte, daß er sich hier in einer Welt befinde, die
nichts mit jener des Scheins und des Schimmers zu tun
habe, von deren hohlklingenden Brettern aus er allabendlich
die Menge amüsierte Er zog also seine Glacéhandschuhe
ab und drückte nun erst die ihm dargereichte Hand. Dann
empfand er das Bedürfnis, gleich jedem wahren und echten
Lustigmacher in Melancholie zu geraten. „... .O, meine
verehrte Frau Merk, es ist nicht alles Gold, was glänzt,
wir Künstler wissen das am besten. Glauben Sie nur: das
Unglück ist die einzig echte Perle im Leben, das Glück ist
nur das Schaumgold, das sie umhüllt. Ein gut Gewissen
ist ein sanftes Ruhekissen, und wenn das letztere auch nur
mit Stroh gefüllt ist. Wer da ruhig schlafen kann ......“
Und er seufzte auf und blickte zur Decke empor, über
der zwei Stockwerke höher der Gegenstand seiner ewigen
Seuszer thronte. Dann kniff er der neugierig vor ihm
stehenden kleinen Anna in die Wangen und vergrub seine
Hand in die hintere Rocktasche, um eine Apfelsine heraus—
zuholen. „Hier, mein Töchterchen, teile dir das mi deinem