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Siebentes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

193 — 
getreten war, hatte sie die Empfindung, als wäre sie ein 
ganzes Jahr abwesend gewesen und beträte nun als 
eine völlig andere diesen Raum. Dann schien es ihr 
wieder, als müßte sich die Decke des Zimmers nieder—⸗ 
senken, um sie zu zerschmettern. 
Auf dem Tisch brannte wie gewöhnlich die kleine 
Lampe. Die Mutter lag im Bett und starrte nach der 
Decke, als wollte sie ihre Blicke in jene höheren Regionen 
senden, wo jener Eine wohnt, der so oft angerufen wird 
und so wenig hilft. 
Frau Merk starrte ihre Tochter an, die wie eine Nacht⸗ 
wandlerin schweigend und bleich vor ihr stand. „Wo 
warst du so lange ?“ fragte sie, mit vom Leiden schwacher 
Stimme. 
Und Magda konnte sich nicht mehr halten. Sie fiel 
vor dem Bett der Mutter auf die Knie und brach in ein 
krampfhaftes Schluchzen aus, das ihren ganzen Körper 
erschüttern machte. „Mutter,“ sagte sie, „ich habe dich 
belogen, um für dich und die Kinder zu sorgen. Schlage 
mich, töte mich, ich habe es verdient um dich!“ 
Und wie sie die Hände um den Hals der Mutter schlug 
und die heißen Tränen Frau Merks Gesicht benetzten, 
wurden auch Idas Augen naß, und sie wußte doch nicht, 
warum. Sie schlug ihre Tochter nicht, sie tötete sie nicht, 
sie küßte sie nur und sagte sanft: „Wecke die Kinder nicht, 
gehe schlafen und bete für deinen Vater.“ 
Max Kretzer, Die Verkommenen. 
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