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Erstes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

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die kleine Hintertreppe, auf der ewig ein halbes Dutzend 
außerlich vernachlässigter und verkümmert aussehender Kin⸗ 
der zweier im Keller zusammenwohnender Arbeiterfamilien 
hockten, hinunter, und bog dann in die belebte Straße ein. 
Es war Ende Oktober. Die Dämmerung brach früh 
herein und erzeugte um diese Stunde jenes Zwielicht, das 
dem Auge eine andere Stadt zu bieten scheint. Allmählich 
tauchten dann die ersten Gasflammen auf, wurden die 
Schaufenster erleuchtet, die ihr blendendes Licht auf das 
Trottoir werfen, begann sich jenes zweite große Berlin 
bemerkbar zu machen, dessen prickelnder Reiz nur bei La— 
ternenschein zu beobachten und zu empfinden ist. Jetzt sehen 
die Häuser anders aus, die Menschen haben sich anscheinend 
äußerlich verändert, die gewaltigen Straßen mit ihren un— 
absehbaren Lichtreihen machen einen neuen Eindruck. 
Die tausendköpfige Menge, die, beim matten Schein der 
Dämmerung noch erkenntlich, in nächster Nähe durch die 
Straßen wogte, erscheint durch das täuschende Licht der 
Laternen sich plötzlich verdoppelt zu haben, gewährt das 
Ansehen einer unbestimmten, sich fortwälzenden Masse, in 
der Reflexe und Lichter ebenso schnell auftauchen, wie sie 
verschwinden, um dann an einer dunklen Stelle gänzlich 
dem tiefen Schatten zu weichen. Jeder Einzelne hat nicht 
mehr das Gefuͤhl der Sicherheit wie am Tage, ist vorsichtig 
im Gewirr des ohrenbetäubenden Wagengerassels, zeigt 
das Bestreben, so schnell wie möglich weiter zu kommen, 
verstärkt durch seine Eile das Wogen dieses atmenden 
Stromes. Und diese ewig unbefriedigte Menge, dieses 
Durcheinander von falschem Schmuck und schlichter Einfach— 
heit, von versteckten Lastern und übertriebenerTugend, dieser 
vielköpfige Todfeind des lieben Nächsten taucht bei die— 
sem zweiten Erwachen Berlins in Kneipen ersten und letzten 
Ranges unter, in Palästen der Mittelstadt, in behaglich 
eingerichteten Bürgerwohnungen, verschwindet allmählich 
in den hohen Mietskasernen der Vorstädte, in enger Klaufe 
des vierten Stockwerks, bis zur finstern Schlafstelle im 
tiefen Kellerwinkel ohne Licht und ohne Luft. Und nun
	        
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