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wandte sich dann mit einer gleichgültigen Bemerkung, ohne
sich im Gehen aufhalten zu lassen, an Joachim Joachimsthal.
Frau Sirach blickte ihm erstaunt nach, als von der
Straße aus ein schmächtiger, für sein Alter großgewachsener
Knabe mit einem äußerst zarten Antlitz, das edle Linien
zeigte, auf sie zutrat und sofort seinen Arm um ihre Schul—⸗
tern legte. Es war ihr Sohn Leonhard, ihr Kleinod, ihr
Ein und Alles auf dieser Welt. Er trug einen schwarzen
Geigenkasten und kam aus der Unterrichtsstunde eines kleinen
sonservatoriums, das er besuchte. Musik wan seine Seele
und die Geige das Instrument, das ihn der Welt entrückte
und die ganze Hoffnung seines ferneren Lebens war.
Seines Talentes wegen wühlte die Mutter in Lumpen von
früh bis spät, sparte sie, führte sie in den dumpfen Räumen
ein abgeschlossenes, anspruchsloses Leben. In der Stille
des Abends, wenn im Hause das letzte Schreien der Kinder
verstummt war, dann tönten von dem einzigen, hinter dem
Keller gelegenen Wohnzimmer der Produktenhändlerin her
langgezogene, süßschmeichelnde Töne zum Hof hinauf, die
Leonhard dem weihevollsten aller Instreumente entlockte.
Da saß denn die Mutter, wenn die Klingel vorn an der
Treppe nicht in Bewegung gesetzt wurde, stillverstruken dem
Sohne mit den lang herabfallenden, schlicht ger*—nten
Haaren gegenüber, der hinter den aufgestapelten 2.npen,
versunken im Reiche der voll und tief hervorquellenden Me—
lodien, hier in der äußeren Vorstadt von dem Kerzenglanz
eines hell erleuchteten Konzersaalez — ten des strah—
lenden, schimmernden Berline te. Wenn es dann
klingelte, schlich die Mutter auf den Zehen hinaus, um die
langen, weißen Finger ihres Sohnes in ihrer göttlichen
Arbeit nicht zu stören. Da wurde der enge Raum zu einem
weiten Tempel, in dem zwei Menschen ihre Andacht ver⸗
richteten, ein jeder nach seiner Weise.
„Na, da bist du ja!“ redete Rosalie ihren Sohn heute
an, nachdem er ihr einen herzhaften Kuß gegeben hatte.
Leonhard lächelte und legte seinen freien Arm in den
seiner Mutter.