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Sechstes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

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wandte sich dann mit einer gleichgültigen Bemerkung, ohne 
sich im Gehen aufhalten zu lassen, an Joachim Joachimsthal. 
Frau Sirach blickte ihm erstaunt nach, als von der 
Straße aus ein schmächtiger, für sein Alter großgewachsener 
Knabe mit einem äußerst zarten Antlitz, das edle Linien 
zeigte, auf sie zutrat und sofort seinen Arm um ihre Schul—⸗ 
tern legte. Es war ihr Sohn Leonhard, ihr Kleinod, ihr 
Ein und Alles auf dieser Welt. Er trug einen schwarzen 
Geigenkasten und kam aus der Unterrichtsstunde eines kleinen 
sonservatoriums, das er besuchte. Musik wan seine Seele 
und die Geige das Instrument, das ihn der Welt entrückte 
und die ganze Hoffnung seines ferneren Lebens war. 
Seines Talentes wegen wühlte die Mutter in Lumpen von 
früh bis spät, sparte sie, führte sie in den dumpfen Räumen 
ein abgeschlossenes, anspruchsloses Leben. In der Stille 
des Abends, wenn im Hause das letzte Schreien der Kinder 
verstummt war, dann tönten von dem einzigen, hinter dem 
Keller gelegenen Wohnzimmer der Produktenhändlerin her 
langgezogene, süßschmeichelnde Töne zum Hof hinauf, die 
Leonhard dem weihevollsten aller Instreumente entlockte. 
Da saß denn die Mutter, wenn die Klingel vorn an der 
Treppe nicht in Bewegung gesetzt wurde, stillverstruken dem 
Sohne mit den lang herabfallenden, schlicht ger*—nten 
Haaren gegenüber, der hinter den aufgestapelten 2.npen, 
versunken im Reiche der voll und tief hervorquellenden Me— 
lodien, hier in der äußeren Vorstadt von dem Kerzenglanz 
eines hell erleuchteten Konzersaalez — ten des strah— 
lenden, schimmernden Berline te. Wenn es dann 
klingelte, schlich die Mutter auf den Zehen hinaus, um die 
langen, weißen Finger ihres Sohnes in ihrer göttlichen 
Arbeit nicht zu stören. Da wurde der enge Raum zu einem 
weiten Tempel, in dem zwei Menschen ihre Andacht ver⸗ 
richteten, ein jeder nach seiner Weise. 
„Na, da bist du ja!“ redete Rosalie ihren Sohn heute 
an, nachdem er ihr einen herzhaften Kuß gegeben hatte. 
Leonhard lächelte und legte seinen freien Arm in den 
seiner Mutter.
	        
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