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Zehntes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

121 — 
Sie fühlten sich gleichberechtigt als Menschen den Menschen 
gegenüber und empfanden die drückende Last ihrer Armut 
ebenso gut, wie Protestant und Katholik in derselben Lage. 
Saure, harte Arbeit hatte auch hier unbewußt ihre sozia— 
listischen Früchte getragen. Sirach war stets ein eifriger 
Anhänger der Lassaleschen Theorie gewesen und hatte sie, 
wenn auch still, gegen Jude und Christ vertreten. Und etwas 
von diesem rein sozialen Glaubensbekenntnis, das keine 
politische Sonderstellung duldete, war auch von Einfluß 
auf seine Frau gewesen, die ihm als liebende Gattin zärt— 
lich und innig zugetan war. 
In ihrer hilflosen Lage hatte Frau Rosalie nach dem 
Tode ihres Mannes durch die geringen Ersparnisse, die ihr 
geblieben waren, den Produktenhandel in der Gerichts⸗ 
straße eröffnet. Sie erwarb weder Reichtümer, noch durfte 
man ihr nachsagen, daß sie sich irgendwie unredliche Hand⸗ 
lungen hätte zu Schulden kommen lassen. Ihr gauzes Be— 
streben war darauf gerichtet, ihren Sohn im Sinne seines 
verstorbenen Vaters zu erziehen, einen braven, guten und 
wahrheitsliebenden Menschen aus ihm zu machen, um so 
viel als möglich bei Zeiten für seine Zukunft zu sorgen. 
Selbst die Arbeiter, die sonst in ihrer Derbheit auf der⸗ 
artige Ernährungsquellen nicht gut zu sprechen waren, 
wußten sie zu schaͤtzen. Und die Frauen des Hauses, die oft 
in der bedrängtesten Lage die letzte Zuflucht zu ihr nahmen, 
standen mit ihr auf dem besten Fuße. 
„Du mein Gott,“ pflegte sie zu sagen, „arm ist arm, 
in dieser Beziehung haben wir uns gegenseitig nichts vor⸗ 
zuwerfen. Bei mir geht es pfundweise und nach der Taxe. 
Da kann jeder aufpassen, wie viel Gewichte ich nehme und 
ob die Wage stimmt.“ 
Als Rosenstiel Frau Sirach erblickte, diese ihm freund⸗ 
lich zunickte und ihn mit der Frage, wie er denn hierher 
komme, anredete, schien ihn das in Gegenwart seines bie⸗ 
deren Onkels zu genieren. 
Er tat so, als kennte er diese Frau nicht, neigte nur 
ein paarmal rasch hintereinander sein Jünglingshaupt und
	        
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