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Erstes Kapitel

Full text: Die Verkommenen (Public Domain)

denn je, und die Beschäftigten arbeiteten nur noch drei 
Viertel des Tages. Dabei brach der Winter früh herein 
und durchfegte mit seinem eisigen Wind bereits die Straßen 
und Plätze. So ein Winter ohne Arbeit, ohne Brot im un⸗ 
geheizten Zimmer war Ida während ihrer vierzehnjäh— 
rigen, bisher immer von Glück und Zufriedenheit gekrönten 
Ehe wie etwas unnennbar Schauriges erschienen, vor dem 
sie sich entsetzte. Er kam ihr wie ein Gespenst vor, das die 
grinsenden Züge von Not und Elend trägt. Und wenn 
sich zu diesem Gespenst auch noch das Fürchterlichste der 
Armut, das man Krankheit nennt, gesellte, dann war der 
Kelch menschlichen Leidens gerade voll genug, um eine 
ganze Familie zu vernichten. . . Wenn Merk wie ge— 
wöhnlich heute keine Beschäftigung bekommen haben würde 
und in völliger Trostlosigkeit nach Hause käme, was dann? 
Der Notgroschen war längst aufgezehrt, man hatte bereits 
ans Versetzen denken müssen, und wußte noch nicht, woher 
man die Miete für den kommenden Ersten schaffen würde. 
Dazu kam, daß Magda an Schuhzeug vollständig abge— 
rissen war und neuer Stiefel bedurfte, sollte sie in der Ge— 
meindeschule bleiben. Auch der elfjährige Franz hatte für 
den Winter nichts Warmes anzuziehen. Er war ein flei— 
ßiger und aufgeweckter Junge mit einem besonderen 
Talent zum Zeichnen. Alle Hausbewohner lobten seine 
Artigkeit, und der Lehrer seiner Klasse stellte ihn allen 
Mitschülern als Muster voran. Konnte er vom Küchen⸗ 
herde eines Stückes Kohle habhaft werden, so setzte er sich 
in irgend eine Ecke und begann auf die blaugetünchte Wand 
allerhand Figuren zu zeichnen, die den großen Ziehhund 
des Grünkramhändlers vorn im Keller, den mageren Gaul 
des Kohlenhändlers im Nebenhause, oder das lange, bart⸗ 
lose Gesicht des Hauswirts vorstellen sollten. Er war in 
seine Kunst so vertieft, daß der das fröhliche Schreien der 
Kinder auf dem Hofe und im langen Torweg völlig über— 
hörte und mit den Spielbedürfnissen anderer Knaben nichts 
gemein zu haben schien. Wenn Merk, den Kleinsten auf 
dem Arm, den Jungen bei einer derartigen Gelegenheit
	        
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