116 —
Unzurechnungsfähigkeit. Er kam gerade vom Diner eines
Bewunderers und Verehrers seiner Frau, eines kleinen
Bankiers in der Kurfürstenstraße, von dem wan sagte, er
lade den unbeholfenen Vielfraß deswegenscezu Tisch, um
ihn aus der Betäubung nicht mehr erwachen zu lassen.
Herr Joachimsthal kam erst bei seinem waschbärartigen
Gang mit mehreren Passanten in Kolliston, geriet sofort,
ohne daß er es nötig gehabt hätte, in das Wagengewühl
der Potsdamerbrücke, wo er sich wie ein hilfloses Kind durch
den Rücken des dort stationierten Schutzmanns zu decken
suchte, und wanderte dann wie ein verkörpertes Irrlicht
seines Weges, dem Leipzigerplatz zu, weiter. Vor dem Ge—
bäude des „Volksboten“ machte er Halt, starrte nach dem
Torweg und ging wieder ein paar mal auf und ab, um das
Haus zu suchen, vor dem er sich bereits befand.
Als es in seinem Gehirn endlich zu därmmern begann,
und er sich anschickte, dem Torweg zuzuschreiten, fuhr eine
Droschke erster Klasse vorüber, in der eine sehr elegant ge⸗
kleidete, üppige Dame, Anfang der Dreißiger Jahre, an der
Seite eines schwarzbärtigen Herrn saß. In dem Pärchen
erkannte Joachimsthal mit plötzlich eingetretenem, bewun⸗
dernswürdig⸗klarem Blicke seine liebe Frau und Gebieterin
Selma und seinen Hausfreund, Herrn Salo Freystätter,
Inhaber eines Bank- und Wechselgeschäfts Unter den Linden,
in dessen Privatwohnung er vor einer halben Stunde ge—
peist hatte.
Ja da rollte sie hin, seine talentvolle Selma, in Ge—
sellschaft des vorzüglichen Mannes, an dessen Tafel man
wie ein Lucull schwelgen konnte, und der nach Kräften be—
müht war, den öffentlichen Nimbus um die „Frau Doktor“
durch ein beispielloses Mäcenatentum im Namen der Lite⸗
ratur aufrecht zu erhalten.
Wenn der zweifelhafte Doktor aus der Bülowstraße das
durch innige Freundschaft verbundene Pärchen auf offener
Straße oder in der Gesellschaft erblickte, dann empfand er
einen gewissen Stolz, der etwas von der aufsteigenden
Ruhmessonne Selmas auch auf ihn übertrug. O, seine