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„Flora,“ sagte sie, „es geht wirklich nicht mehr. Du
siehst, ich liege schon, es ist auch die höchste Zeit. Du weißt,
was bevorsteht, ich bitte dich, bleibe bei mir und besorge
das Nötige, da in der Schublade liegt das Geld. Die Kinder
können wohl am besten unten in deiner Wohnung bleiben.
O, wenn doch Merk erst hier wäre, mir ist so, als wenn er
heute kommen müßte.“
Sie hatte furchtbare Wehen und Schmerzen und stöhnte
und ächzte laut.
„Das wird schlimm werden,“ sagte sie dann wieder,
„ich glaube, ich habe mir gestern wehe getan beim Umlegen
eines Spindes.“ Sie krümmte sich förmlich, so entsetzlich
litt sie. „Ja, ja, das kommt davon, wenn man wie ein Last⸗
tier sich buckeln muß, wo man eigentlich ruhen und sich
pflegen sollte.
Plötzlich schrie sie jämmerlich auf, so daß Flora angst
und bange wurde. Das würde noch gerade gefehlt haben,
wenn die Mutter draufginge, wo ein neues Leben be—
ginnen sollte.
Die Mäntelnäherin suchte sie zu trösten, dabei wurde
ihr aber selbst das Herz beklommen. Es war in der Däm—
merstunde, Flora zündete Licht an und verhing die Fenster
mit einem alten Schaltuch und einer geflickten Bettdecke.
Dann mußte Magda, die in der Küche geblieben war,
Fräulein Dorchen heraufholen. Die kleine Näherin sollte
die nötige Hilfe holen.
Bei Zipfel unten ging es um diese Zeit bereits wieder
laut her. Es war Montag, man hatte zeitig Feierabend
gemacht und noch soviel Geld in der Tasche, um einen
hinter die Binde zu gießen.
An einem Tisch, gegenüber der Schanklade, in eine
Ecke gedrückt, saß Ludwig Jakob, der sein Teil bereits ge⸗
hörig weg hatte und sich auf Kosten seines Schlafburschen
Kaulmann, der neben ihm saß, ganz vortrefflich gut tat.
Er hatte eine riesige Karbonade auf seinem Teller und aß
mit einem Heißhunger, als hätte er seit vier Wochen kein
Fleisch mehr gesehen. Zweimal bereits hatte Rosa an seiner