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Olga fühlte sich tödlich erschrocken, als sie Frau von Setzen
an der Stimme erkannt hatte. Also „du“ nannten sie sich!
Das waren ja ganz merkwürdige Dinge, die sie erlebte. Wie
sie die Treppen heruntergekommen war, wußie sie nicht. Im
GBewühl der Straße erst kam sie zur Besinnung. Sie betrachtete
die Welt mit anderen Augen. Himmel, Häuser und Bäume
waren dieselben geblieben, aber die Menschen hatten sich ver—
ändert. Mit dem Gefühl der Ermattung, das sie träge dahin-
schreiten ließ, mischte sich etwas von der Wonne genossenen
Glückes. Der Gedanke, daß sie eine Gefallene sei, wurde ver—
drängt durch die Genugtuung, um ein Geheimnis bereichert
zu sein, dessen Erforschung die größte Sehnsucht des erwachen—
den Weibes bildet, das Lieben und Leben ihres Geschlechts
ausfüllt.
Als sie in diesem Dämmerungstaumel niegeahnter Lebens⸗
wollust langsamen, unsicheren Schrittes inmitten der sonn—
täglich gekleideten Menge durch die Straße ging, in der der
erste Laternenschimmer mit dem Schatten des späten Abends
rang, streifte jemand unbewußt sanft ihren Arm, um sich dann
in unsicherer Gangart an ihr vorbei zu winden.
Es war Paulus Liese, der sie nicht erkannt hatte und sich
nun beeilte, noch spät seiner Kneipe zuzusteuern. Ihr Herz
bekam einen Stoß, alles Blut drängte sich zu ihm zurück, daß
sie meinte, es stocke ihr in allen Adern. Sie blieb stehen, wollte
ihm nach, aber sie schämte sich. So stand sie an einer Laterne,
verfolgte ihn mit ihren Blicken, bis er in einem Pferdebahn⸗
wagen verschwunden war. Dann schritt sie zitternd an allen
Gliedern, mit einem Segenswunsch für ihn auf den Lippen,
sich selbst verachtend, ihres Weges weiter ...