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Fünftes Kapitel

Full text: Drei Weiber / Kretzer, Max (Public Domain)

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Olga fühlte sich tödlich erschrocken, als sie Frau von Setzen 
an der Stimme erkannt hatte. Also „du“ nannten sie sich! 
Das waren ja ganz merkwürdige Dinge, die sie erlebte. Wie 
sie die Treppen heruntergekommen war, wußie sie nicht. Im 
GBewühl der Straße erst kam sie zur Besinnung. Sie betrachtete 
die Welt mit anderen Augen. Himmel, Häuser und Bäume 
waren dieselben geblieben, aber die Menschen hatten sich ver— 
ändert. Mit dem Gefühl der Ermattung, das sie träge dahin- 
schreiten ließ, mischte sich etwas von der Wonne genossenen 
Glückes. Der Gedanke, daß sie eine Gefallene sei, wurde ver— 
drängt durch die Genugtuung, um ein Geheimnis bereichert 
zu sein, dessen Erforschung die größte Sehnsucht des erwachen— 
den Weibes bildet, das Lieben und Leben ihres Geschlechts 
ausfüllt. 
Als sie in diesem Dämmerungstaumel niegeahnter Lebens⸗ 
wollust langsamen, unsicheren Schrittes inmitten der sonn— 
täglich gekleideten Menge durch die Straße ging, in der der 
erste Laternenschimmer mit dem Schatten des späten Abends 
rang, streifte jemand unbewußt sanft ihren Arm, um sich dann 
in unsicherer Gangart an ihr vorbei zu winden. 
Es war Paulus Liese, der sie nicht erkannt hatte und sich 
nun beeilte, noch spät seiner Kneipe zuzusteuern. Ihr Herz 
bekam einen Stoß, alles Blut drängte sich zu ihm zurück, daß 
sie meinte, es stocke ihr in allen Adern. Sie blieb stehen, wollte 
ihm nach, aber sie schämte sich. So stand sie an einer Laterne, 
verfolgte ihn mit ihren Blicken, bis er in einem Pferdebahn⸗ 
wagen verschwunden war. Dann schritt sie zitternd an allen 
Gliedern, mit einem Segenswunsch für ihn auf den Lippen, 
sich selbst verachtend, ihres Weges weiter ...
	        
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